Weißbuch der britischen Regierung So will May den Brexit stemmen

Theresa May
Foto: TATYANA ZENKOVICH/ AFPAls der neue Brexit-Minister Dominic Raab seine Stellungnahme zum EU-Austritt verlesen will, wird es laut im britischen Unterhaus. Abgeordnete rufen durcheinander, viele sind empört: Das mit Spannung erwartete Weißbuch zum EU-Austritt haben einige britische Journalisten bereits am Morgen erhalten. Die Parlamentarier sollen es dagegen erst jetzt zu sehen bekommen - doch nicht einmal das funktioniert.
Raab steht schon, da laufen Menschen mit Pappkartons durch den Plenarsaal, verteilen, ja werfen mitunter die Kopien in die Reihen. Der Unterhaussprecher unterbricht schließlich die Sitzung für fünf Minuten - ein ungewöhnlicher Schritt: "Es ist höchst bedauerlich, dass diese Situation entstanden ist", schiebt er hinterher.
In Großbritannien liegen die Nerven blank - das wird in diesem Moment einmal mehr überdeutlich.
WATCH: the Speaker suspends the Commons as long-awaited Brexit White Papers are distributed (thrown in some cases) to MPs... . pic.twitter.com/PyXjJy1Kd0
— Kristiina Cooper (@KristiinaCooper) July 12, 2018
Es geht um viel an diesem Tag. Zwei Jahre lang war die britische Regierung wichtigen Entscheidungen beim Brexit aus dem Weg gegangen: Zur Frage der künftigen Beziehungen mit der EU etwa, zur nordirischen Grenze oder zu den Rechten der EU-Ausländer. Zu verhärtet waren die Fronten zwischen Hardlinern, die einen möglichst kompromisslosen Brexit anstreben und Proeuropäern, die den EU-Ausstieg im Grunde immer noch für falsch halten.
Am Freitag hatte Premierministerin May auf ihrem Landsitz in Chequers das Kabinett dann endlich auf einige Leitlinien eingeschworen. Die Regierung peilt nun einen weicheren Brexit an, will sich etwa beim Warenaustausch auch weiter EU-Regeln unterwerfen. Das war einigen Hardlinern zu viel: Brexit-Minister David Davis trat zurück, kurz darauf auch Außenminister Boris Johnson.
Doch eine weitere Eskalation blieb aus - vorerst. Wie gebannt wartete die britische Öffentlichkeit auf die eigentlichen Details hinter Mays Chequers-Kompromiss. Wie sich die Regierung den Brexit konkret vorstellt, hat sie nun in einem Weißbuch veröffentlicht.

Theresa May bei Kabinettsklausur
Foto: JOEL ROUSE/ AFPEs ist, das war schon vorher klar, eines der wichtigsten Regierungs-Dokumente zum Brexit überhaupt: die längste Erklärung zu Londons Hoffnungen und Wünschen an die EU. 104 Seiten umfasst das Papier. "Die künftige Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union", lautet der Titel.
Im Text versucht die Regierung beiden Lagern entgegenzukommen. Man wolle einen "prinzipientreuen und pragmatischen" Brexit, heißt es da. Es gehe darum, "das Ergebnis des Referendums zu respektieren". Die Öffentlichkeit habe entschieden, die Kontrolle über Gesetze, Grenzen und Geld zurückzuerlangen. Zugleich strebe man aber neue Beziehungen zur EU an, die umfangreicher sein sollen als jedes andere Bündnis zwischen der Union und anderen Ländern.
Einige wichtige Punkte:
Wirtschaft: Großbritanniens wichtigstes Ziel ist eine Freihandelszone mit der EU - das ging auch schon aus dem dreiseitigen Chequers-Papier hervor. Bei Gütern, Lebensmitteln und Agrarprodukten soll es keine Hindernisse im Warenverkehr geben. Dafür wolle man das "gemeinsame Regelwerk" beibehalten. Das ist eine nettere Umschreibung dafür, dass Briten sich in diesem Bereich auch in Zukunft an EU-Gesetze halten.
Einer der Hauptkritikpunkt der Brexit-Befürworter im Land bleibt also bestehen. Ausnahmen soll es - wie erwartet - bei Dienstleistungen geben. Hier will London gesonderte Vereinbarungen treffen. Auch bei Finanzdienstleistungen fordern die Briten neue Regelungen - umgehend gab es am Donnerstag Protest vom Finanzplatz City of London. Die Banken fürchten Schwierigkeiten durch losere Verbindungen nach Europa.
Zollvereinbarungen: Binnenmarkt und Zollunion wollen die Briten verlassen, auch das ist ein zentrales Versprechen von May. Stattdessen schlägt London ein "gemeinsames Zollgebiet" vor - auch das war bereits bekannt. Hier würden die Briten EU-Regeln für bestimmte Waren anwenden, Kontrollen wären demnach hinfällig. Für Produkte, die aus Drittländern in die EU gehen, würde London EU-Zölle erheben - und eigene Zölle, bei Waren, die für den Markt im Königreich bestimmt sind. Eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland soll damit ebenfalls verhindert werden. Die Pläne sollen in einem Assoziierungsabkommen festgezurrt werden.
Zuwanderung: Die Einwanderung war beim Referendum für viele Menschen der entscheidende Grund, warum sie gegen die EU gestimmt haben. Das weiß auch die Regierung und will nun einmal mehr Härte demonstrieren - zumindest verbal. Mehrfach wird im Text hervorgehoben, dass die Bewegungsfreiheit nach der Übergangsfrist im Dezember 2020 ende. Allerdings wolle man auch in Zukunft, "die Besten und Aufgewecktesten" ins Land holen.
Konkret schlägt die Regierung eine Art eingeschränkte Bewegungsfreiheit für ausgewählte Menschen vor: Unternehmen sollten ihre "talentierten Leute" weiter problemlos nach Großbritannien beziehungsweise in die EU schicken können. Die Forderung: Visafreiheit für Touristen, Studenten und EU-Bürger, die vorübergehend dienstlich ins Land reisen. Dazu sollten entsprechende Vereinbarungen getroffen werden. Wie diese im Detail aussehen könnten, lässt das Weißbuch offen.
In den kommenden Tagen dürften Mays Kritiker in Brüssel und London das Papier auseinandernehmen. Klar ist: Mit Widerstand muss die britische Regierung rechnen. Fraglich, ob die EU auf die Vorschläge eingeht. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte stets darauf beharrt, die Grundprinzipien des Binnenmarkts - den freien Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitnehmern - nicht zur Debatte zu stellen. Nun twitterte Barnier lediglich, man wolle die Vorschläge sorgfältig prüfen.
Und auch im eigenen Land droht weiter Ärger. Der ultrakonservative Jacob Rees-Mogg, Chef der einflussreichen European Research Group, sagte, das Papier erneuere "viele der schlechtesten Aspekte der EU", weshalb das britische Volk für den Austritt gestimmt habe. "Das respektiert nicht das Ergebnis des Referendums."