Von der Leyens neue Kommissions-Agenda Modern Talking

Ursula von der Leyen: Selbstbewusste Vorstellung ihres EU-Kommissionsteams
Foto: Virginia Mayo/ APDie Unruhe im Raum wächst spürbar. Aber Ursula von der Leyen redet erst mal nur über die Struktur ihrer neuen Kommission und ihr etwas abseitig wirkendes Vorhaben, bei Sitzungen künftig papierlos arbeiten zu wollen. "Paperless", sagt sie, das klingt modern. Es ist Dienstagmittag, kurz nach zwölf Uhr. Zahlreiche Journalisten haben sich im Pressezimmer der EU-Kommission versammelt und wollen eigentlich nur eines wissen: Wer wird was in der neuen Europa-Regierung?
Seit Tagen fiebert Brüssel der Verteilung der Ressorts entgegen. Doch die künftige Kommissionschefin will, dass ihre Zuhörer erst einmal genau verstehen, wie sich ihr neues Team die Arbeit vorstellt. Daher spult sie nicht nur Namen ab, sondern zückt Diagramme. Von der Leyen wirkt dabei ein wenig wie eine Grundschullehrerin, die sichergehen will, dass auch die Klassenschwächsten mitkommen: Acht Vizepräsidenten wird es künftig geben, drei davon in herausgehobener, "exekutiver" Stellung. Soviel Überbau verlangt tatsächlich nach einer Erklärung.
- Der als Spitzenkandidat für den Kommissionsvorsitz gescheiterte Sozialdemokrat Frans Timmermans aus den Niederlanden soll sich um den sogenannten Grünen Deal kümmern, also alles, was mit der Klimapolitik zu tun hat.
- Der Star der alten und wohl auch neuen Kommission, die Liberale Margrethe Vestager, wird Vizepräsidentin für Digitales und behält gleichzeitig das Wettbewerbszuständigkeit, mit der sie in den vergangenen Jahren zum Schreck der Tech-Giganten aus den USA wurde.
- Der dritte ist der stets etwas fade wirkende Lette Valdis Dombrovskis, der wohl nur deswegen mit den beiden anderen in einem Atemzug genannt wird, weil die Europäische Volkspartei (EVP) einen der herausragenden Posten für einen Christdemokraten haben wollte.

Neue EU-Kommissare: Von der Leyens Europa-Team
"Wir wollen mehr Schwung in die Europäische Demokratie bringen"
Fast zwei Stunden nimmt sich von der Leyen Zeit. Seit ihrer Wahl im Europaparlament und einigen Interviews Ende Juli hat man sie in Brüssel nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es gebe ein grundlegendes Anliegen, das ihr Team zusammenschweiße, sagt sie nun: "Wir wollen mehr Schwung in die Europäische Demokratie bringen."
Europa müsse liefern, und zwar bei den großen Fragen: Klimaschutz, Brexit, das Verhältnis zu Donald Trump - kein Thema werde ohne die EU zu lösen sein. "Wir wollen eine starke geopolitische Kommission sein", sagt von der Leyen.
Die 60-Jährige will in "Clustern" arbeiten, noch so eine modern klingende Anlehnung an die Sprache der Manager. Zuständig für diese Themen- und Arbeitsgruppen sind jeweils zwei Vizepräsidenten. Ein Beispiel: Christdemokrat Dombrovskis soll sich um eine "Wirtschaft, die für die Menschen funktioniert" kümmern. Sein Gegenpart wird ein Währungskommissar aus dem Süden, der italienische Sozialdemokrat Paolo Gentiloni.
Konflikte im Cluster austarieren
Die Idee scheint dieselbe wie bei von der Leyens Vorgänger Jean-Claude Juncker: Die unterschiedlichen politischen Vorstellungen innerhalb der EU, etwa zu den Schuldenkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, sollen bereits mit der Personalkonstellation austariert werden.
So richtig geklappt hat das bei Juncker nicht. Ursula von der Leyen ist jedoch guter Dinge: "Als erfahrener ehemaliger Premierminister weiß er genau, welche schwierigen Fragen auf ihn zukommen", sagt sie beispielsweise über Gentilonis Besetzung. Dass ihre Parteifreunde aus CDU und CSU eher fürchten, der Italiener werde sich als Totengräber der europäischen Schuldenregeln erweisen, ficht die neue Kommissionschefin nicht an. Auf das Gerede der Unionshinterbank habe sie schon in Berlin keinen Wert gelegt. "Wir haben einen Stabilitäts - und Wachstumspakt. Die Regeln und die Grenzen sind klar, die Flexibilitäten sind klar", sagt sie.
Doch ganz so egal ist das EU-Parlament eben nicht. Und das liegt nicht nur daran, dass die Abgeordneten jedes neue Kommissionsmitglied nun streng befragen werden und im Extremfall die gesamte Kommission ablehnen könnten. Vor allem aber war die Parlamentsmehrheit für von der Leyen bei ihrer Wahl im Juli hauchdünn: Wenn sie also künftig für ihre Vorhaben Mehrheiten organisieren will, braucht sie eine größere Plattform. Auch deshalb war es wohl wichtig, ihre neuen Kommissionsposten möglichst penibel zwischen Christ- und Sozialdemokraten aufzuteilen.
Reizworte wie Migration werden weggekürzt
Der Grieche Margaritis Schinas etwa, zuletzt Pressesprecher der EU-Kommission, wird für die EVP ebenfalls Vizepräsident, er soll sich künftig um den "Schutz der Europäischen Lebensweise" kümmern. Hinter diesem harmlos wirkenden Titel steckt auch das ernste Thema Migrationspolitik. Schinas wird daher wohl mit der schwedischen Sozialdemokratin Ylva Johansson eng zusammenarbeiten, die das Innenressort übernimmt.
Einerseits, so scheint es jedenfalls, wirbelt von der Leyen die bisherige Struktur ziemlich durcheinander. Das wirkt erst einmal zupackend, neu und furchtlos. Andererseits gibt es für bekannte Aufgaben oft einfach nur prägnantere Namen. Aus dem Kommissar für Wirtschaft und Währung wird der "Wirtschaftskommissar", aus der Kommissarin für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität die Kommissarin für "Jobs". Und aus "Migration und Inneres" wird schlicht "Inneres".
Was dadurch wegfällt, sind lediglich Reizworte, die Streitpotenzial haben - Währung, Soziales, Migration. Fragt man von der Leyen, steckt dahinter angeblich kein Kalkül. "Die Namen der Portfolios wurden im Laufe der Zeit immer länger, wir haben das gestrafft", erklärt sie.
Zahlreiche kritische Nachfragen gibt es wegen der Benennung von Vera Jourová als Vizepräsidentin für "Werte und Transparenz". Immerhin stammt die bisherige Justizkommissarin aus der Partei des tschechischen Premierministers Andrej Babis, einem der reichsten Unternehmer des Landes, dem der schludrige Umgang mit EU-Regionalfördermitteln vorgeworfen wird. "Es gibt einen Konsens, dass sie als Justizkommissarin ausgezeichnet gearbeitet hat", hält von der Leyen dagegen. Zudem kümmere sich ja auch der Belgier Didier Reynders um die Justiz. Es klingt, als solle er als Aufpasser agieren.
Andererseits könnte sich die Ernennung Jourovas auch als kluger Schachzug erweisen. Polen und Ungarn etwa dürfte es künftig schwerer fallen, die gegen sie laufenden Strafverfahren als Konflikt zwischen Ost und West darzustellen, wenn eine Kommissarin aus dem Visegrád-Staat Tschechien verantwortlich ist. Auch ist Jourova in der Vergangenheit nicht eben sanft mit Staaten umgesprungen, die Defizite in Sachen Rechtsstaatlichkeit zeigten. So forderte sie als eine der Ersten, betreffenden Mitgliedsländern EU-Fördergelder zu kürzen.
Auch von der Leyen selbst muss Vorurteile aus dem Weg räumen. Sie will in Brüssel nicht als deutsche Kommissionschefin gelten, aber eben auch nicht als Präsidentin von Gnaden des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Was die Deutschen angeht, so können Skeptiker beruhigt sein: Sie kriegen in Brüssel von der Leyen, und dabei bleibt's.
"Qualität und Exzellenz ist alles, was zählt"
Die Franzosen hingegen dürfen sich am Dienstag über ein wuchtiges Ressort für ihre Kommissarin Sylvia Goulard freuen. Sie bekommt ein aufgerüstetes Binnenmarktressort und ist auch für eine bessere Zusammenarbeit beim Beschaffungswesen in der Verteidigungspolitik zuständig. Zuletzt gab es in dieser Hinsicht schwere Verstimmungen zwischen Paris und Berlin.
Kurz vor 14 Uhr macht sich von der Leyen auf den Weg. Ihr Auftritt beantwortete viele Fragen, stellte aber auch einige neue. Wie ihr neues Team zusammenspielt, wird sich in den kommenden Monaten zeigen, wenn von der Leyen mit einem ersten Klimagesetz punkten will. "Das ist ein Team, so divers wie Europa, so stark wie Europa", sagt sie am Ende ihrer Präsentation.
Klar ist also, dass von der Leyen mit reichlich Selbstvertrauen und Zuversicht in ihre neue Aufgabe startet. Die Frage etwa, ob die neue Machtfülle für Google-Schreck Vestager nicht die US-Amerikaner verprellen könnte, quittiert sie souverän: "Qualität und Exzellenz ist alles, was zählt." Worauf es gar nicht ankomme, so die implizite Botschaft, ist, wie man in Washington ihre Personalentscheidungen bewertet.