Mutmaßlicher Geheimdienstanschlag in Sofia Auftrag: Mord

GRU-Agent Denis Sergejew, Deckname "Sergej Fedotov"
Foto: DER SPIEGEL/ Bellingcat"Es begann mit einem juckenden Auge. Nach einem Abendessen im April 2015 fühlte sich Emilian Gebrew plötzlich unwohl. Am nächsten Tag wurde es schlimmer. Der bulgarische Rüstungsfabrikant begann sich zu erbrechen und kollabierte schließlich in einem Restaurant in Sofia.
Im Krankenhaus fiel Gebrew kurz darauf ins Koma. Schnell war klar: Er war vergiftet worden. Nur mit welchem Stoff konnten die Ärzte nicht feststellen. Gebrews Sohn und ein Geschäftspartner zeigten ähnliche Symptome, wenn auch weniger ausgeprägt.
Emilian Gebrew überlebte den Anschlag knapp und lebte fortan in Ungewissheit. Wer hatte ihm das angetan? Die Ermittlungen der Behörden führten schon bald ins Leere - bis drei Jahre später im März 2018 der Ex-Spion und Moskauer Überläufer Sergej Skripal in England ebenfalls Opfer eines Giftanschlags wurde.
Parallelen zwischen Skirpal und Gebrew offensichtlich
Wie sich herausstellte, ging der Anschlag in England zweifellos auf das Konto von Mitgliedern einer Sondereinheit des russischen Militärgeheimdienstes GRU. Das Attentat auf Skripal sorgte international für großes Aufsehen, als Reaktion wiesen zahlreiche Staaten russische Diplomaten aus. Gebrew verfolgte die Berichterstattung und wunderte sich. Er kontaktierte die Staatsanwaltschaft. Die Parallelen zwischen Skripal und ihm waren offensichtlich:
- Beide Opfer waren im Kreml nicht gut gelitten.
- Beide Opfer kamen mit einer mysteriösen Substanz in Kontakt.
- Beide kostete es beinahe ihr Leben.
Ein mögliches Motiv der Russen im Fall Gebrew? Er belieferte unter anderem Georgien mit Waffen, mitten im Konflikt mit Russland im Jahr 2008. Außerdem bemühte Gebrew sich um die Übernahme einer großen bulgarischen Waffenfabrik. Sollte die Übernahme womöglich mit allen Mitteln verhindert werden?
Russische GRU-Agenten: Männer fürs Grobe
Britische und bulgarische Behörden tauschten sich nach Gebrews Hinweisen aus. Doch es waren Journalisten der Investigativnetzwerke "Bellingcat" und "The Insider", die Anfang des Jahres eindeutige Verbindungen zwischen den Mordversuchen enthüllten - und damit Belege für europaweit koordinierte Aktivitäten russischer Killerkommandos lieferten.
Männer wie aus einem Spionage-Thriller, mit der Lizenz zum Töten. Schattenkrieger, die nicht die Gehirne, sondern die Werkzeuge einer breit angelegten Kampagne des Kremls sind, die nach Einschätzung westlicher Sicherheitsbehörden letztlich Europa destabilisieren und schwächen soll.
Eine hybride Strategie der russischen Regierung, in der mal Desinformation und Propaganda, mal Hackerangriffe oder auch finanzielle Unterstützung rechtsextremer Parteien zum Einsatz kommen. GRU-Agenten sind bei der Kampagne die Männer fürs Grobe.
Sie sind meist kampferfahren, dienten häufig in Spezialeinheiten des Militärs. Sie sind skrupellos und brutal. Aber bei näherer Betrachtung bisweilen auch tollpatschiger, als man denkt.
Ein Mann, mindestens zwei Identitäten
Eine zentrale Rolle in den Enthüllungen um Skripal und Gebrew spielt ein Geheimdienstler mit dem Decknamen "Sergej Fedotov", ein Russe mit grauen Schläfen und bulligem Gesicht. Kurz vor dem Skripal-Attentat im März 2018 reiste "Fedotov" mit einem auf diesen Namen ausgestellten Ausweis nach England.
Von einem Londoner Hotelzimmer aus fungierte er mutmaßlich als lokaler Koordinator des Giftanschlags in Skripals Wohnort Salisbury . Nachforschungen - unter anderem in russischen Passdatenbanken - führten im Februar dieses Jahres schließlich zur Enttarnung des Mannes: bei "Sergej Fedotov" handelt es sich tatsächlich um den 45-jährigen GRU-Agenten Denis Sergejew .
Gemeinsame Recherchen von "Bellingcat" und dem SPIEGEL dokumentieren seit 2012 zahlreiche Reisen des Mannes nach Europa. Bei den belegbaren Trips in den Westen war der Geheimdienstler immer mit seinem Decknamen "Fedotov" unterwegs.
Der naheliegende Grund: Eine Person, die jedes Mal mit einem anderen Namen nach Europa einreist, würde bei biometrischen Kontrollen, etwa an Flughäfen, schnell als Spion mit doppelter Identität auffallen. Also bleiben auch Agenten zumindest bei Flugreisen lieber bei nur einer Fake-Identität.
Visa für den Schengenraum bekam "Sergej Fedotov" von europäischen Botschaften und Generalkonsulaten lange problemlos - das belegen Dokumente aus mehreren Auslandsvertretungen, die dem SPIEGEL vorliegen.
Ein Touristenvisum für Spanien? Kein Problem
Niemand in den Visaabteilungen der Botschaften schien zu ahnen, dass der Russe bei seinen häufigen Reisen nach Europa nicht als Tourist, sondern wohl in geheimer Mission unterwegs war. Ein Touristenvisum für Spanien? Kein Problem, noch genehmigt am Tag der Antragsstellung. Ein Aufenthalt in Frankreich? Na klar. "Sergej", der Vielflieger. Dokumentiert sind auch mehrere Reisen des Agenten nach Bulgarien:
- Am 24. April 2015, drei Tage vor dem Giftanschlag auf Waffenhändler Gebrew, reiste "Fedotov" per Flugzeug nach Burgas, einem Badeort an der Schwarzmeerküste.
- Seinen Rückflug hatte er für eine Woche später gebucht.
- Doch schon am späten Abend des 28. April nahm "Fedotov" einen Last-Minute-Flug über Istanbul zurück nach Moskau - genau an jenem Tag, an dem Emilian Gebrew im Restaurant kollabierte und ins Koma fiel.
Alles Zufall? Eher nicht. Wie neue Recherchen zeigen, war Denis Sergejew alias "Sergej Fedotov" längst nicht der einzige GRU-Mitarbeiter, der im fraglichen Zeitraum nach Bulgarien flog.
Das Vorgehen - plump und verräterisch
Vertrauliche Dokumente aus Flugdatenbanken und Passagierlisten belegen Reisen von insgesamt acht enttarnten GRU-Agenten, die mutmaßlich mit dem Mordversuch in Verbindung stehen:
- So hielten sich etwa am Tag des Attentats neben "Fedotov" noch zwei weitere Agenten mit den Tarnidentitäten "Sergej Pavlov" und "Georgi Gorshkov" in Bulgarien auf.
- Genau wie im Fall "Fedotov" wurden auch diese Identitäten in russischen Datenbanken und Registern erst ab dem Jahr 2009 kreiert.
- Nach der Berichterstattung über die Fälle Skripal und Gebrew wurden sie wieder gelöscht.
Eine plumpe Vorgehensweise, und eine verräterische dazu. Auch waren die Fake-Identitäten nie realen Personen in Russland zuzuordnen - "Fedotov", "Pavlov" und "Gorshkov" existierten nur auf dem Papier, zum Beispiel in den Visaabteilungen europäischer Auslandsvertretungen.

GRU-Agent Sergej Lyutenko, Deckname "Sergej Pavlov"
Foto: DER SPIEGEL/ BellingcatZudem sind ihre Ausweise einer Charge mit einer bestimmten Nummernfolge zuzuordnen, die schon in der Vergangenheit von identifizierten GRU-Mitarbeitern genutzt wurde. Ein dreiköpfiges mutmaßliches Kill-Team, das wohl mit der unmittelbaren Ausführung der Tat beauftragt war.
Trotz zweier Versuche scheiterten die Killer
Rund einen Monat nach dem Giftanschlag im April 2015 wurde Rüstungsfabrikant Gebrew aus dem Krankenhaus entlassen. Der Bulgare dachte, das Schlimmste überstanden zu haben. Doch er hatte sich getäuscht. Bereits am 25. Mai musste der Unternehmer erneut mit Vergiftungssymptomen ins Krankenhaus. Wieder überlebte er.
Nur zwei Tage vor dem zweiten Mordversuch hatten sich einmal mehr zwei GRU-Agenten per Direktflug aus Russland auf den Weg nach Sofia gemacht. Einer von ihnen: "Sergej Fedotov" - der Mann, der mit seinen Kollegen schon während der ersten Attacke gegen Gebrew vor Ort war, ebenso wie beim Mordanschlag auf Skripal Jahre später. Todesgrüße aus Moskau.
Trotz zweier Versuche scheiterten die Killer mit ihrem Auftrag in Bulgarien - und das, obwohl die Operation offenbar lange und aufwendig vorbereitet worden war: Auswertungen von Reisedaten zeigen, dass die acht enttarnten GRU-Männer zwischen März 2014 und Mai 2015 in wechselnden Konstellationen in Bulgarien auftauchten. Mal reisten sie allein, mal in Zweier- oder Dreierteams, und immer nur für wenige Tage.

GRU-Agent Nikolay Ezhov, Deckname "Nikolay Kononikhin" - Mitglied des achtköpfigen mutmaßlichen Killerteams
Foto: DER SPIEGEL/ BellingcatWas genau die Agenten während ihrer Aufenthalte schon Monate vor den Mordversuchen taten, ist unklar. Doch zur Erholung reisten die Männer mit den falschen Namen wohl nicht in die Region. Eher zum Ausspähen, Aufklären und zum Zuschlagen. Alte Geheimdienstschule eben.
Die Ermittlungen der bulgarischen Behörden im Fall Emilian Gebrew laufen weiter, ein Ende ist noch nicht abzusehen. Gebrew drängt nun darauf, die Proben des verwendeten Gifts weiter von Speziallaboren untersuchen zu lassen. Erste Ergebnisse deuten auf Ähnlichkeiten mit einem Nervengift aus der Nowitschok-Gruppe hin. Die Substanz, die auch Sergej Skripal fast das Leben kostete.