C-Waffen-Experte "Moskau war nur der Vorgeschmack"
SPIEGEL ONLINE:
Herr Professor Dando, welches geheimnisvolle Gift wurde in Moskau eingesetzt?
Malcolm Dando: Wir wissen, dass während des Kalten Krieges beide Seiten ein enormes Spektrum an möglichen chemischen Kampfstoffen getestet haben. Es ging auch darum, Substanzen zu finden, bei denen es einen großen Unterschied gibt zwischen der Dosis, mit der man jemanden außer Gefecht setzt und der tödlichen Dosis. Es wurde intensiv an Stoffen wie BZ oder auch Opiaten wie Fentanyl gearbeitet. Ich denke, dass in Moskau eine schon lange entwickeltes Betäubungsmittel eingesetzt wurde und nichts Neues.
SPIEGEL ONLINE: Da es keine praktische Erfahrung mit solchen Stoffen gibt, wurde offensichtlich überdosiert
Dando: Im Kalten Krieg gab es weitreichende Versuche an Menschen mit diesen Chemikalien. Die Durchschnittsdosis, mit der ein gesunder Mann außer Gefecht gesetzt werden kann, muss für die benutzten Substanzen bekannt sein. In einem solch großen Raum jedoch lässt sich die Konzentration nicht kontrollieren, und man weiß nicht wie Kranke oder Erschöpfte reagieren.
SPIEGEL ONLINE: Was ist über die Forschung in den USA auf diesem Gebiet bekannt?
Dando: Es gibt eine lange Geschichte des intensiven Interesses an diesen Chemikalien in den USA. Das Joint Non-Lethal Weapons Directorate versucht, neue Stoffe entwickeln zu lassen. Es gibt zudem intensive Diskussionen zwischen den Verteidigungsministerien der USA, Grossbritanniens und anderer Nato-Staaten zu diesem Thema.
SPIEGEL ONLINE: Was haben wir an neuen Kreationen zu erwarten?
Dando: In den 90er Jahren haben die Wissenschaftler im Zuge der gentechnologischen Revolution große Fortschritte bei der Erforschung des Nervensystems und der Neuro-Transmitter gemacht. Das neue Wissen über die Rezeptorensysteme etwa ermöglicht die Entwicklung von Chemikalien, die sehr viel präziser und selektiver wirken. Die Möglichkeiten äußerst gezielter Attacken auf das Nervensystem sind enorm gewachsen.
SPIEGEL ONLINE: In den USA wurde bereits in den sechziger Jahren an "ethnischen Kampfstoffen" gearbeitet, die bei Vietnamesen wirken sollten, aber nicht bei Amerikanern.
Dando: Kampfstoffe wirken auf unterschiedliche Rassen unterschiedlich, aber wir haben keine Beweise dafür, dass derzeit in den USA in dieser Richtung geforscht wird.
SPIEGEL ONLINE: Verbietet die Chemiewaffen-Konvention nicht Forschung für neue C-Waffen, ob nun tödlich oder nicht?
Dando: Leider nicht, denn die Konvention hat das Schlupfloch, dass für die Bekämpfung interner Unruhen Stoffe entwickelt werden können. Solange ein Land nicht große Mengen nicht gemeldeter, aber indizierter Substanzen auf Lager hält, ist solche Forschung legal.
SPIEGEL ONLINE: Sollte die Konvention verschärft werden?
Dando: Auf jeden Fall.
SPIEGEL ONLINE: Nun haben die USA im vergangenen Jahr die Stärkung der Biowaffen-Konvention torpediert. Ist bei den C-Waffen ähnliches zu erwarten?
Dando: Ja. Der 11. September hat wohl auch dazu beigetragen, dass die Amerikaner, die sich in militärischen Angelegenheiten immer auf ihre technologische Überlegenheit verlassen haben, verstärkt auch nach neuen C-Waffen suchen.
SPIEGEL ONLINE: Was weiß man über die Russen?
Dando: Es gibt keinen Zweifel daran, dass die illegalen und geheimen Programme zum Bau fürchterlicher B- und C-Waffen aus Sowjetzeiten wenigstens zum Teil weitergeführt werden.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es andere Länder, die einem Sorgen machen müssen?
Dando: Indien hat eine entwickelte Industrie, die Chinesen sind nicht untätig. Und die britische Regierung hat den Irak beschuldigt, eine BZ-ähnlichen Kampfstoff produziert zu haben. Was wir in Moskau erlebt haben, war nur der Vorgeschmack auf etwas, was wir in der Zukunft häufiger sehen werden.
SPIEGEL ONLINE: Sehen Sie keine Möglichkeit, die Entwicklung von immer neuen chemischen Kampfstoffen und nicht-tödlichen Waffen zu stoppen?
Dando: Die wissenschaftliche und technologische Entwicklung hängt generell von den nationalen und internationalen gesetzlichen Rahmenbedingungen ab. Wir stehen jetzt vor der Frage, ob wir es zulassen wollen, dass die derzeitige Revolution vor allem in der Genetik wie frühere Technologien in größerem Maßstab für die Kriegsführung verwendet wird - oder nicht.
SPIEGEL ONLINE: Konventionen sind eine schöne Sache, aber entscheidend ist ihre Durchsetzung...
Dando: Ja, deshalb wäre es ein Desaster, wenn auf der demnächst beginnenden Biowaffen-Konferenz alle den Amerikanern nachgeben würden und sämtliche Entscheidungen schlicht auf das Jahr 2006 vertagt würden. Die übrigen Staaten müssten stattdessen - wie beim Kyoto-Vertrag oder dem Internationalen Strafgerichtshof - ohne die Amerikaner weitermachen. Das gleiche gilt für die Schließung der Schlupflöcher in der C-Waffen-Konvention.
SPIEGEL ONLINE: Gegen die Arsenale und das wissenschaftliche Potenzial der Großmächte erscheinen Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen vergleichsweise bescheiden.
Dando: Es ist dennoch wichtig, schnell wieder Inspektoren in den Irak zu schicken, auch unter der Androhung von Waffengewalt. Wir müssen zudem die B- und die C-Waffen-Konventionen verschärfen, und die internationale Gemeinschaft muss entschlossen gegen ihre Verletzungen vorgehen. Es wäre im Interesse der Amerikaner diesbezüglich mitzuziehen - was sie derzeit nicht tun, und was einem ebenso große Sorgen machen muss wie Saddam Hussein.