Alltag im "Dschungel" von Calais "Die Gewalt kann jederzeit eskalieren"

Aktivist im "Dschungel" von Calais
Foto: Pierre GautheronBen ist misstrauisch. Der Aktivist im Flüchtlingslager von Calais lässt sich nicht mehr gerne fotografieren. "Neulich hat mich jemand einfach geknipst. Hinterher habe ich zufällig erfahren, dass er das Foto auf einer Faschisten-Website veröffentlicht hat."
Seit im Südteil des Lagers die provisorischen Unterkünfte der Migranten geräumt werden, haben sich die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern der Räumung weiter vertieft. Da sind rechtsgerichtete Gruppen wie "Les Calaisiens en Colère", die Wutbürger von Calais, die auf ihrer Facebook-Seite brennende Hütten hämisch kommentieren und die Einsatzkräfte bejubeln: "Endlich atmet Calais wieder durch!"
Und da sind die Bewohner des Lagers, die sich plötzlich nicht nur daran gewöhnen müssen, ihre bescheidenen Behausungen zu verlieren, sondern auf einmal von Dutzenden Kamerateams aus ganz Europa belagert sind. Viele sind sowieso völlig überfordert mit der Situation, einige haben sich die Lippen zugenäht und sind in den Hungerstreik getreten. Verständlich, dass viele keine Interviews geben wollen.
Hinzu kommt die Angst. Die meisten haben kein Asyl in Frankreich beantragt, weil sie trotz der massiven Kontrollen und Sperrzäune immer noch hoffen, illegal nach Großbritannien fliehen zu können. Sie denken, es könne ihnen schaden, wenn sie mit ihrer Geschichte und ihrem Namen in den Medien stehen. Zudem sprechen die wenigsten gut Englisch oder Französisch.
Die Aktivisten wiederum sind wütend auf die französische Politik. Viele haben das Vertrauen in Europa verloren. Sie sagen, sie wollten nichts romantisieren, aber solange die Politik keine Alternative für die Flüchtlinge von Calais habe, mache die Räumung nur alles schlimmer. Also gehen sie weiter ihrer Arbeit nach, geben Theaterkurse, machen Sport, beraten in rechtlichen Fragen - und denken über passiven Widerstand nach: Blumen gegen Polizisten, Bücher gegen die Bagger.
Zwei Französinnen wiederum haben für die Bewohner einen besonderen Weg gefunden, ihre Gefühle auszudrücken - ganz ohne Interviews. Sie haben einfach die Rollen verdreht und den Bewohnern Kameras gegeben. So können endlich einmal auch die Betroffenen selber das Leben im "Dschungel" festhalten, wie sie es selbst sehen.
Hugo Barros und Cyrille Vietti aus Frankreich

Hugo und Cyrille
Foto: SPIEGEL ONLINE"Ich bin mit Cyrille vor zwei Tagen aus Paris hierhergekommen. Wir waren noch nie hier und wollten uns selber ein Bild machen. Wir engagieren uns für die NGO "Un autre monde" (Eine andere Welt) und haben Essen mitgebracht. Wir können den Menschen nur unser Mitgefühl zeigen, das ist nicht viel. Ehrlich gesagt bin ich geschockt von der Situation. Es ist so hoffnungslos. Wir haben eine französische Lehrerin getroffen, die hier seit drei Monaten arbeitet. Sie hat stundenlang nur geweint. Das ist nicht das Europa, das ich mir vorstelle. Das ist unmenschlich, die Behörden tun nichts anderes, als das Lager zu zerstören. In zwei, drei Wochen entsteht irgendwo das nächste Lager. Es ist eine Schande. Europa ist reich genug, um die Flüchtlinge aufzunehmen."
Paul, 38, aus Schottland

Paul
Foto: Pierre Gautheron"Die Polizisten haben den "One Spirit Ashram", eine Gemeinschaftsküche, umstellt, damit dahinter ungestört abgerissen werden kann. Ich habe ihnen Blumen vor die Füße gelegt, als Zeichen der Humanität und Solidarität. Das sind die Werte, die das Ashram ausmachen; hier treffen sich friedlich Menschen aus unterschiedlichen Kulturen. Für mich ist der ganze 'Dschungel' eine Gemeinschaft, kein Flüchtlingscamp. Natürlich hat keiner der Polizisten die Blumen aufgehoben. Gestern habe ich ihnen auch Tee und Essen angeboten. Sie haben freundlich "Nein, danke" gesagt. Es ist gut, wenigstens zu sprechen. Das verhindert vielleicht, dass die Menschen so aufeinander losgehen wie am Montag. Trotzdem kann die Gewalt jederzeit eskalieren."
Séverine Sajous, 34, und Amandine Verfaillie, 23

Séverine und Amandine
Foto: Pierre Gautheron"Wir arbeiten für das Fotoprojekt 'Jungleye'. Die Idee ist, das Leben im 'Dschungel' aus dem Blickwinkel seiner Bewohner zu dokumentieren. Wir geben den Flüchtlingen Kameras und helfen ihnen, zu fotografieren. Sie sollen ihre Gefühle durch die Fotografie ausdrücken. Aus den Bildern machen wir Postkarten. Auf der Rückseite steht der Name des Flüchtlings und ein Spruch, den er sich für die Karte ausgesucht hat. 170 Postkarten haben wir bisher gemacht, man kann sie in drei Geschäften in Calais kaufen. Wir hoffen, dass das gerade jetzt hilft, Spannungen abzubauen und für das Thema zu sensibilisieren. Viele Touristen sind nur am Strand und waren noch nie im Lager. Selbst Einwohner von Calais haben keine Ahnung, wie es hier aussieht."
William aus dem Südsudan und Al-Haj aus dem Sudan

William und Al-Haj
Foto: Pierre GautheronSie lebten früher im selben Land, bis nach langem Konflikt 2011 aus dem Südsudan ein eigener Staat wurde. William ist Christ, Al-Haj Muslim. Seit sieben Monate leben sie zusammen im Lager, das wie einst ihre Heimat wieder in einen Nord-und Südteil aufgeteilt ist. Im Südteil wird gerade abgerissen. Beide sprechen nur brüchig Englisch; Al-Haj möchte nicht fotografiert werden.
"Ich bin froh, dass ich nicht im Südteil des 'Dschungels' lebe", sagt Al-Haj, der schon unzählige Male versucht hat, von Calais nach England zu fliehen. "Hier im Norden ist es besser. Ich glaube nicht, dass sie auch das zerstören. Ich weiß es aber nicht. Man kann sich nie sicher sein."
"Ich will mir nicht anschauen, wie sie die Häuser abreißen", sagt William. "Nein. Ich gehe da nicht hin. Viele haben in letzter Zeit den 'Dschungel' verlassen. Trotzdem gibt es hier einen guten Ort. Ich gehe jeden Sonntag um 7 Uhr in die [auch aus Planen und Brettern erbaute christlich-orthodoxe] Kirche. Sie ist sehr schön. Die Messe dauert drei Stunden. Danach fühle ich mich besser."
Saïd, 37, aus Pakistan

Saïd
Foto: Pierre GautheronSaïd verkauft an diesem Tag Hähnchen in einem kleinen Restaurant. Die kleine Stube aus Sperrholz und Zeltplane mit einer rosafarbenen Tür und Palmen an der Wand heißt womöglich etwas selbstironisch "3-Sterne-Hotel".
"Ich koche jetzt nur noch morgens. Ich merke, dass weniger Leute kommen. Viele wollen nur noch weg hier. Der Besitzer von diesem Restaurant ist auch schon gegangen. Er versucht sein Glück in Paris. Warum er es '3-Sterne-Hotel' genannt hat? Keine Ahnung. Vielleicht glaubt er, das nächste Mal wirklich ein Luxushotel zu eröffnen. Das Leben jetzt ist sehr traurig. Irgendwann wird auch dieses Restaurant abgerissen. Es gibt keine Entschädigung. Mit allem Material ist das hier bestimmt 5000 Euro wert. Ich würde am liebsten in England leben. Ich spreche die Sprache schon und dort leben viele Pakistaner."
Ben aus Großbritannien

Ben
Foto: Pierre GautheronBen arbeitet im Jugendzentrum "Baloo", benannt nach dem Bär aus Kiplings "Dschungelbuch". Er macht gerade Mittagspause, vor dem Zentrum hängt ein Boxsack, an dem sich ein paar Jungs abreagieren.
"Ich merke, dass sich das Verhalten der Kinder und Jugendlichen verändert hat. Sie sind bedrückter, haben häufiger Wutanfälle. Das sind psychologische Probleme. Wir versuchen, offen zu bleiben, Normalität in den Alltag zu bringen, aber das ist schwierig, wenn drumherum alles abgerissen wird. Besonders schlimm war es bei dem Polizeieinsatz letzten Montag. Wir mussten uns mit zwölf Jungs in dem Zentrum einschließen. Wir haben die Türen gegen das Tränengas abgedichtet und Handtücher unter den Türschlitz geschoben. Keine Ahnung, wie das hier weitergeht. Das 'Baloo' soll angeblich nicht abgerissen werden, aber dann stünde es alleine in einer Mondlandschaft."
Joe, 25, aus Großbritannien

Joe
Foto: Pierre GautheronDie Sonne scheint und Joe sitzt auf einem Stuhl vor der Bücherei "Jungle Books". Die bunt bemalte Hütte ist dank weltweiter Spenden prall gefüllt mit Büchern in vielen Sprachen. Joe ist seit zwei Tagen im Camp.
"Ich bin kein Aktivist, aber ich besuche einen Freund, der hier arbeitet. Ich wollte das Lager unbedingt mit eigenen Augen sehen. Ich muss sagen, es ist die Hölle auf Erden. Man muss nur in die Gesichter der Menschen schauen. Sie sind apathisch und deprimiert. Die Gemeinschaft fällt auseinander. Es sieht aus, als gehe es dem Ende zu. Dagegen muss man Widerstand leisten. Falls die Bücherei doch abgerissen wird, sollten wir uns auf das Dach setzen und lesen. Ich will nichts romantisieren, aber solange es keinen besseren Platz für diese Menschen gibt, sollte der Dschungel bleiben."
Orsane, 29, aus Frankreich
"Ich arbeite seit zwei Monaten als Rechtsberaterin im 'Legal Center' im Lager. Die Stimmung hat sich in den vergangenen Tagen verändert. Die Menschen sind niedergeschlagen, depressiver, die Kinder eingeschüchtert. Im Moment herrscht das Gefühl vor, dass der Staat einfach zu stark ist und es sich erlauben kann, seine Versprechen nicht einzuhalten. So sollte zum Beispiel niemand mit Gewalt aus seinem Haus gezerrt werden, aber genau das passiert. Meine Stimmung schwankt zwischen Wut und Traurigkeit, zwischen Aufbegehren und Hoffnung. Wir sind in Kontakt mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Er hat der Regierung Fragen gestellt, aber bisher war noch niemand vor Ort. Besonders die Vertreibung der Minderjährigen könnte juristisch beanstandet werden. Aber die Zeit drängt. Jeden Tag wird abgerissen, und die Leute schlafen draußen oder verlassen das Lager."
Video: Reportage aus dem "Dschungel" (25.02.2016)
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