
Ringen um Ceta "Ich liebe euch doch alle!"


Anti-Ceta-Protest (in Köln)
Foto: Wolfram Kastl/ dpaCeta, das europäische Freihandelsabkommen mit Kanada, sollte an diesem Donnerstag feierlich unterzeichnet werden, doch die Wallonen spielten nicht mit. Jetzt weiß immer noch niemand, was Ceta eigentlich ist. Aber immerhin wissen jetzt alle, dass es die Wallonen gibt. Die "Experten" sagen, dieses Abkommen sei das beste seiner Art. Vielleicht stimmt das sogar. Aber darauf kommt es gar nicht mehr an. Denn die Leute misstrauen den "Experten" inzwischen.
Inzwischen haben sich die Belgier im Ceta-Streit geeinigt, man kann dem Vertrag nun zustimmen. Der vorübergehende Aufstand der Wallonen ist dennoch ein Schlag. Nicht nur für Europa. Sondern für die westliche Art und Weise, Politik zu betreiben: im Hinterzimmer, als Clubspiel zwischen Lobbyisten und Politikern. Wann lernen unsere Politiker endlich: Diese Art von Politik hat keine Zukunft.
Wer sind schon die Wallonen? Winzig ist die Wallonie. Und riesig ist Europa. Soll ein kleines Volk aus waldigen Hügeln den großen Kontinent aufhalten? So reden die, die immer noch nicht begriffen haben, was sich derzeit abspielt. Im Fachdeutsch der Politologen würde man von einem beschleunigten Prozess politischer Delegitimierung sprechen.
Trump, die AfD, der Brexit, die Wallonen. Eine Erosion ist im Gange. Eine Auflösung. Es ist, als sei die westliche Demokratie ein Pullover und jemand hat einen Faden in die Finger bekommen und zieht und zieht, und niemand stoppt ihn. Denn es sind weiß Gott nicht nur die Wallonen. Es ist das gesamte System westlicher Politik, das an seine Grenzen stößt.
Weitermachen, immer weitermachen. Viel zu vielen Politikern und Journalisten fällt im Angesicht der Krise kein anderes Rezept ein. Aber solche Starrheit, solche Unfähigkeit, Kritik zu akzeptieren, sind die Warnzeichen eines taumelnden Systems.
Katrin Göring-Eckardt gab neulich ein Beispiel für dieses Denken, als sie sich in einem Interview über Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Linken, empörte: "Wagenknecht spricht von 'Mainstream-Medien', gegen die man aufklären müsse. Sie spricht von Staatsversagen und Systemversagen. Das ist nicht mehr nur Nationalismus, sondern bezweifelt den demokratischen Charakter Deutschlands."
Freihandel ist zur Chiffre für Klüngelei geworden
Bankenkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise - jeder Mensch weiß, dass wir in den vergangenen Jahren gleich mehrfach ein Versagen von Staat und System erlebt haben. Aber aussprechen darf man es nicht? Die Dinge beim Namen nennen darf man nicht? Zweifeln darf man nicht? Hauptsache die Begriffe bleiben intakt: vor allem der Begriff der Demokratie. So haben sie es im Sozialismus seinerzeit auch gehandhabt. Das Wort war längst hohl geworden. Da standen nur noch die Buchstaben. Leer, ohne Inhalt. Demokratie könnte zu so einem Wort werden wie einst das Wort vom Sozialismus. Zu einer leeren Floskel.
Wer die Demokratie schützen will, sollte sich gegen ein Handelsabkommen wenden, das die ordentliche Justiz durch eine Sondergerichtsbarkeit für Unternehmen und Investoren ersetzt. Denn das tut auch Ceta. Freihandel ist auch so ein Wort. Es klingt so schön. Nach offener See und großer Fahrt und tapferen Kapitänen. In Wahrheit ist Freihandel längst zu einer Chiffre für die Klüngelei zwischen Konzernen und Politikern geworden.
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Soweit sind wir schon alle zu "Experten" in Sachen Freihandel geworden, dass wir verstanden haben: Es geht hier um die Abschaffung der "nichttarifären Handelshemmnisse" - die Angleichung von Sozialstandards, Umweltstandards, Rechtsstandards. Aber das sind Standards im Interesse der Menschen. Werden sie dem Freihandel geopfert, wird die Freiheit eine Sache der Konzerne, nicht mehr eine der Menschen.
Steuern, Terror, Klima - gemeinsam läuft es prima!
Martin Schulz, der ein Europäer ist und ein Demokrat, hat über das Nein der Wallonen aufrichtig Klage geführt. "27 Länder sagen Ja, eines sagt aus innenpolitischen Gründen Nein, und der ganze Zug steht still. Der Gemeinschaftsgeist wäre die Lösung und nicht der Partikularismus." Schulz hat Recht. Aber es ist ein Zeichen für die tiefgreifende Krise der westlichen Politik, dass ausgerechnet die Idee von Europa in die Mitleidenschaft eines Problems gezogen wird, für dessen Lösung sie eigentlich ein Mittel sein sollte.
Heute lernt man schon im Kindergarten, warum zwischenstaatliche Kooperation unerlässlich ist - Steuern, Terror, Klima, gemeinsam läuft es prima! Aber je mehr die Menschen der Demokratie im Inneren misstrauen, desto weniger sind sie bereit, sie im Äußeren aufzugeben. Das ist ein Teufelskreis.
Es ist ein Jammer, dass sich in Deutschland kaum noch jemand für die Geschichte der DDR interessiert. Es ließe sich daraus viel lernen: über das Scheitern von Hoffnungen. Über die Entleerung von Begriffen. Über Lügen. Und Selbstlügen. Über die Degeneration einer Idee. Auch die Idee der Demokratie kann degenerieren. Als die DDR unterging, hat Erich Mielke, der Herr der Stasi, ihr noch hinterhergerufen: "Ich liebe euch doch alle." Was wird einmal der letzte Demokrat sagen?