Chaos auf Lampedusa Italien schiebt Flüchtlinge an EU-Partner ab

Flüchtlinge auf Lampedusa: Weiter nach Norden, nach Österreich, Deutschland, Holland
Foto: Ettore Ferrari/ dpaEs ist ein Uhr nachts, aber die Prominenz des kleinen Touristenstädtchens Massa Marittima im Süden der Toskana ist vollzählig versammelt: Bürgermeisterin, Polizeichef, Feuerwehr, Zivilschutz, selbst die Spitzen der Finanz- und der Forstpolizei. Sie warten auf einen Bus mit 44 jungen Männern, die in der kirchlichen Herberge Sant'Anna untergebracht werden sollen. Männer aus Tunesien, rechtlich: illegale Einwanderer.
Tagelang waren diese in winzigen, zerbrechlichen Booten auf dem Meer unterwegs, weitere Tage haben sie danach auf der kargen Insel Lampedusa im Freien verbracht, dann sind sie mit dem Schiff in den Hafen von Livorno und nun ins beschauliche Massa Marittima verfrachtet worden. Hier, in Sant'Anna - dem Feriendomizil "für eine andere Kultur des Reisens", wie es die Werbung verheißt - werden sie verköstigt und registriert.
Vier Tunesiern ist die Sache unheimlich, sie türmen. Am Ortsrand wissen sie nicht mehr weiter. Wo es nach Rom gehe, fragen sie einen Passanten, bevor sie von den Carabinieri wieder eingesammelt und zurück nach Sant'Anna transportiert werden. Ihre Reisegefährten dort sind krachsauer. Sie fürchten, dass der Fluchtversuch der vier Kumpane die gesamte Gruppe die erhoffte Aufenthaltsgenehmigung kosten könnte. Die Sorge ist unbegründet.
Aus "humanitären Gründen", so hat es die italienische Regierung beschlossen, werden alle etwa 23.000 illegalen Einwanderer aus Nordafrika, die seit Anfang des Jahres übers Meer kamen, eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, die sechs Monate gültig ist. Nur wer schon einmal ausgewiesen wurde oder in Italien straffällig geworden war, muss umgehend zurück. Und ebenso all diejenigen, die ab heute anlanden.
Tunesien, das hat Italiens Innenminister Roberto Maroni nach zähen Verhandlungen mit der neuen Führung in Tunis in dieser Woche stolz verkündet, sei fortan bereit, seine Staatsbürger anstandslos zurückzunehmen, wenn die Italiener sie auf Fähren zurückschippern. Die Vereinbarung "beendet den Fluss der illegalen Einwanderung", jubelte der Mann aus der traditionell ausländerfeindlichen Partei "Lega Nord", die gemeinsam mit Silvio Berlusconis "Partei der Freiheit" die Regierung in Rom stellt. Wenn er sich - und seine Wähler - da nur nicht täuscht.
Das Bleiberecht nutzen, um weiterzuziehen
Der neue italienische Kurs in der Flüchtlingspolitik hat nämlich viele Schwachstellen. Was tun mit den Menschen aus den Booten, die nicht aus Tunesien kommen, sondern aus Ägypten, aus Libyen und vielen anderen Ländern? Was tun mit den Tunesiern, die ihre Pässe wegwerfen und vorgeben, aus einem anderen Land zu kommen? Und was tun mit denen, die nun für ein halbes Jahr Gast in "Bella Italia" sein dürfen? Sie am Ende der Zeitspanne ausweisen, oder aus "humanitären Gründen" das Bleiberecht verlängern?
Die Wahrheit ist: Die Regierung in Rom hat ganz anderes vor. Sie will, dass die Flüchtlinge das Bleiberecht nutzen, um wieder zu gehen - weiter nach Norden.
Klingt verworren, hat für Italien aber einen gewissen Charme. Denn so könnte sich das Flüchtlingsproblem von selbst lösen - wie schon einmal. Als die Menschen Ende der neunziger Jahre zu Zehntausenden aus dem Balkan über die Adria nach Italien kamen, wurden sie kurz in Lager gesperrt und dann mit einer Ausweisungsbescheinigung - binnen einiger Tage hatten sie Italien zu verlassen - auf die Straße gesetzt. Die meisten reisten nicht zurück übers Meer nach Osten, sondern mit Bahn oder Auto nach Norden, nach Österreich, Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich. Italiens Behörden sahen zu.
EU-Flüchtlingspolitik: Die nationalen Schotten dichtmachen
So ähnlich stellt sich Innenminister Maroni die Sache wohl auch jetzt vor. Und in der Tat, auch von den heutigen Immigranten wollen die meisten nicht in Italien bleiben - Fachleute sprechen von 80 Prozent. Ihre favorisierten Ziele sind Frankreich und Deutschland.
Die italienische Aufenthaltsgenehmigung, behauptet Maroni, gebe den Tunesiern das Recht, in andere Länder der EU-Schengen-Zone zu reisen und dort drei Monate zu bleiben, also etwa in Frankreich oder Deutschland. Das sehen diese Länder ganz anders, ebenso die meisten EU-Rechtsexperten. Nötig dafür wäre, sagen die, dass Brüssel eine entsprechende Verfügung erlässt. Die dort zuständige Kommissarin, die Schwedin Cecilia Malmström, wäre dazu zwar bereit. Aber sie müsste das Okay der Mehrheit der europäischen Innenminister haben. Und danach sieht es derzeit gar nicht aus.
Denn so wie die Italiener sich das Flüchtlingsproblem vom Hals schaffen wollen, wollen die anderen es sich erst gar nicht erst aufhalsen. Die Trauer über die menschlichen Schicksale der Bootsflüchtlinge - die in Europa vor allem nach Unglücken mit vielen Toten wie in dieser Woche aufkommt - ist regelmäßig schnell verflogen. Europa hat kein Konzept, keine Idee, wie es mit den Menschen umgehen soll, die auch in den kommenden Jahren in großer Zahl hier anlanden werden.
Eine andere Kultur des Reisens
Jedes Land versucht, so weit es geht, die nationalen Schotten dichtzumachen. Rabiat - und zumindest hart am Rande des EU-Rechtsbruchs - führten zum Beispiel die Franzosen in dieser Woche an der italienisch-französischen Grenze bei Ventimiglia die mit dem Schengen-Vertrag eigentlich abgeschafften Kontrollen wieder ein. Das Ziel: die dort ankommenden Tunesier abfangen und zurückschicken.
Dass das Problem so schnell nicht gelöst werden wird, ahnen wohl auch die gutmeinenden Gastgeber der 44 jungen Tunesier in Sant'Anna. Sie haben sich ein "Integrationsprogramm" ausgedacht, zu dem Fußball spielen mit den Einheimischen ebenso gehört wie das Erlernen der italienischen Sprache in Wort und Schrift. Sogar ein Kurs über die Geschichte des Ortes und seiner Umgebung ist geplant.
Aber länger als bis Ende Mai, das haben die Betreiber der Herberge den Stadtoberen gleich klargemacht, können die nordafrikanischen Gäste nicht bleiben. Dann wird der Platz wieder für "eine andere Kultur des Reisens" gebraucht.