Neue Protestformen "Chile als Beispiel des sozialen Aufstands in Lateinamerika"

Demonstranten am Menschenrechtstag in Santiago de Chile (10.12.2019)
Foto: Spencer Platt/ Getty ImagesEin paar Cent waren der Auslöser, die Gründe dagegen vielfältig: Mitte Oktober begannen die Menschen in Chile, gegen soziale Ungleichheit und das neoliberale Wirtschaftssystem zu protestieren, nachdem die Preise für die U-Bahn erneut erhöht werden sollten.
Die Sicherheitskräfte gingen zum Teil brutal gegen die Demonstranten vor, doch die gaben nicht auf. Präsident Sebastián Piñera wechselte schließlich seine Minister aus, kündigte Reformen an - und einigte sich am 15. November mit der Opposition auf ein Abkommen für eine neue Verfassung.
Doch viele Menschen in Chile sind damit noch lange nicht einverstanden, sie haben das Vertrauen in ihre Regierung verloren, fühlen sich nach wie vor nicht genug berücksichtigt. Und, einmal angefangen, wollen sie nicht aufhören, für ihre Rechte einzutreten.
Der Protest findet jedoch inzwischen nicht mehr primär auf der Straße statt, sondern in den Wohnzimmern, Küchen, Hausfluren, in Parks oder auf Marktplätzen: Mehr als 200 Nachbarschaftsversammlungen gibt es mittlerweile im Land, sogenannte Cabildos oder Asambleas.
Die meisten wurden während der ersten Protestwoche im Oktober gegründet, als Piñera den Ausnahmezustand mit Ausgangssperre verhängt hatte und die Soldaten auf den Straßen bei vielen Menschen Erinnerungen an die Militärdiktatur wachriefen.
Bei gemeinsamen Mittag- und Abendessen sprechen sie seither über die Probleme im Land, diskutieren über die Vorgehensweise der Regierung, organisieren Informations- und Protestveranstaltungen und bereiten sich auf den verfassunggebenden Prozess vor.
Viele Chilenen befürchten, dass dieselben Politiker, wegen derer sie die Proteste angefangen haben, diesen Prozess nun zu ihrem eigenen Nutzen beeinflussen.
Aufgrund der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten und Sicherheitskräfte fordern viele außerdem den Rücktritt von Piñera; die Zustimmung für den Präsidenten ist auf unter fünf Prozent gesunken.
Je nach Stadtviertel nehmen zwischen 50 und 500 Personen an den Treffen teil. Die meisten Gruppen treffen sich einmal in der Woche auf öffentlichen Plätzen und teilen sich in Arbeitskommissionen auf zu Themen wie Lebensmittelversorgung, Gesundheit, Bildung, Kultur, Kommunikation und Menschenrechte.
Die Asambleas oder Cabildos sind horizontal organisiert, ohne Führungspersönlichkeiten. Über alle Entscheidungen wird basisdemokratisch abgestimmt. Viele verfolgen das Ziel, die Stadtviertel autonom zu verwalten.
Hier berichten Chilenen, warum sie an den Versammlungen teilnehmen und was sie verändern wollen:
Paula Vásquez, 32 Jahre, Lehrerin aus Vicuña:

Paula Vásquez beim Protest in Vicuña (2. von rechts)
Foto: privat"Als der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, haben wir uns auf dem Plaza in Vicuña getroffen, weil wir Angst hatten und wütend waren. Seitdem treffen wir uns jede Woche. Endlich haben wir die Möglichkeit eines Wandels. Das spüre ich in den Blicken der Menschen, in den Begrüßungen, in den Gesprächen. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet.
Der Aufstand hat zwar in Santiago begonnen, aber sich sehr schnell aufs gesamte Land ausgebreitet. Hier im Elqui-Tal haben wir Probleme wegen der Monokulturen, der Pestizide und der Wasserverschmutzung. Hier werden vor allem Trauben angebaut. Viele Kinder haben Allergien und viele Plantagenarbeiter sind krebskrank.
Hier auf dem Land gibt es außerdem viel Machismo, Gewalt gegen Frauen und Vergewaltigungen. Junge Mädchen werden mit alten Männern verheiratet. Deshalb haben wir auch eine feministische Asamblea gegründet. Die neue Verfassung ist eine Sache, aber wir brauchen einen gesellschaftlichen Wandel."
Dann Espinoza, 33 Jahre, Betriebswirt aus Valparaíso:

Dann Espinoza (unten rechts) mit der Asamblea
Foto: privat"Ich wohne im Cerro Yungay in Valparaíso, wo wir seit 2016 mit den Nachbarn und Nachbarinnen in einem Gemeinschaftsgarten arbeiten. Diese Struktur war die Grundlage für den Cabildo, den wir wenige Tage nach der Verhängung des Ausnahmezustands gegründet haben.
Ich nehme daran teil, weil unser Land keine sozialen Grundrechte garantiert wie Transport, Wohnraum, Ernährung, Gesundheit, Bildung und Renten. Hier in der Region gibt es Dörfer, in denen die Menschen kein Trinkwasser haben, weil sich die Wasserrechte in den Händen der Agrarindustrie befinden.
Deshalb kritisiere ich das neoliberale System und möchte mit meinen Nachbarn Formen sozialer und solidarischer Wirtschaft, Kooperativen und Tauschnetzwerke in die Praxis umsetzen."
Paola Palacios, 30 Jahre, Frauenrechtsaktivistin aus Santiago:

"Ich bin vor etwa vier Jahren aus Kolumbien nach Chile eingewandert. Seitdem erlebe ich eine dreifache Diskriminierung: als Frau, als Migrantin und als Schwarze. Chile ist ein rassistisches Land. Viele Migranten leben deshalb isoliert.
Ich nehme an der Asamblea teil, damit die Leute merken, dass wir Teil der Gesellschaft sind. Was im Land passiert, betrifft auch uns. Durch die Treffen habe ich viele meiner Nachbarn kennengelernt, die mich jetzt auf der Straße grüßen. Die neuen sozialen Bindungen werden der größte Gewinn dieses Prozesses sein.
Früher wurde Chile als Vorbild für das neoliberale Wirtschaftssystem betrachtet, jetzt geht es als Beispiel des sozialen Aufstands in Lateinamerika voran. Das wird in die Geschichte eingehen, und ich bin sehr froh, das mitzuerleben."
Margarita Dublas, 66 Jahre, Rentnerin aus Coquimbo:

Margarita Dublas
Foto: privat"In der Asamblea haben wir eine Informationsveranstaltung über die Verfassung organisiert. Dort haben wir festgestellt, dass die aktuelle Verfassung wirtschaftliche Interessen vor soziale Rechte stellt. Mich persönlich betrifft das Rentensystem am meisten. Ich erhalte eine Rente von 105.000 Pesos monatlich (rund 120 Euro). Und ich habe fünf Kinder, da musste ich auswählen, welches zur Universität gehen durfte, weil das Geld nicht für alle gereicht hat.
Hier in der Region gibt es viel Bergbau, und die Unternehmen verdienen jede Menge Geld, aber am Straßenrand verschenken die Leute ihre Ziegen, weil sie sie nicht ernähren können. Die Politiker haben keine Empathie und keinen Respekt gegenüber den Menschen. Deshalb kämpfen wir für unsere Würde.
Die Asamblea gibt mir viel Hoffnung. Die Leute haben Lust, sich kennenzulernen, sich zu unterhalten und ihre Meinung auszudrücken. In der Militärdiktatur konnten wir das nicht. Jetzt wollen wir Teil der neuen Verfassung sein - dieser Prozess darf aber nicht von denselben Politikern angeführt werden, die uns in all diesen Jahren betrogen haben."
Jorge Weke, 51 Jahre, Sprecher des Parlamento de Coz-Coz aus Panguipulli:

Jorge Weke
Foto: Sophia Boddenberg"Ich bin Mapuche und lebe in einer Gemeinde südlich von Panguipulli in der Región de Los Ríos im Süden Chiles.
Wir Mapuche haben schon immer gegen das neoliberale System und den Kapitalismus gekämpft. Der chilenische Staat und die Unternehmen plündern unser Wasser, unser Land, unsere Bodenschätze. Jetzt haben die Chilenen verstanden, wofür wir schon so lange gekämpft haben, weil auch das chilenische Volk so nicht überleben kann. Deshalb unterstützen wir Mapuche diese kollektive Bewegung.
Als die Proteste in den U-Bahn-Stationen in Santiago anfingen, haben wir uns sofort organisiert und vier Tage später die Asamblea Plurinacional de Panguipulli gegründet. Mapuche und Chilenen nehmen daran teil - gemeinsam wollen wir ein neues Chile gestalten."
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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