Verfassungsreferendum in Chile
"Wir dürfen den Prozess nicht den Politikern überlassen"
Hohe Wahlbeteiligung, eindeutiges Votum: Die chilenische Verfassung aus Diktaturzeiten wird abgeschafft. Die Bevölkerung feiert ihren Sieg - und mahnt aus Misstrauen gegenüber den Eliten zur Wachsamkeit.
Demonstranten in Santiago de Chile: "Den Druck auf der Straße aufrechterhalten"
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IVAN ALVARADO / REUTERS
Die Wahllokale waren noch nicht geschlossen, da war die erste der vielen Fragen dieses Sonntags in Chile bereits beantwortet. Die Demonstranten gewannen das Tauziehen um die Hoheit über die Plaza Italia im Zentrum von Santiago für sich. Nachdem Polizisten über Stunden diesen symbolträchtigen Platz mit Tränengas und Wasserwerfern verteidigt hatten, zogen sie sich um 19 Uhr zurück und überließen der Bevölkerung den Ort, der im Volksmund nur noch "Platz der Würde" heißt.
Hier hatten sich im vergangenen Jahr die Kämpfe um die neue Verfassung konzentriert. Hierher zogen die Chilenen seit dem Nachmittag in Scharen, um das Ergebnis des Plebiszits zu feiern, dessen Ausgang noch eindeutiger als vorhergesagt war. Mit Feuerwerk und Fahnen, Sprechchören und Umarmungen verwandelten sie - trotz Pandemie - den Platz der Würde in einen Ort der Glückseligkeit.
Am Ende stimmten über 78 Prozent der Wahlberechtigten für die Abschaffung der Verfassung, die 1980 von den Juristen des Diktators Augusto Pinochet entworfen wurde. Und die auch nach dem Übergang zur Demokratie im Jahre 1990 das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell in Chile festschrieb. Ein neues Grundgesetz soll jetzt die Basis für ein gerechtes und solidarisches Land legen.
Dieses soll von einer verfassungsgebenden Versammlung ausgearbeitet werden, deren 155 Mitglieder im April per Wahl bestimmt werden. Die Alternative, dass die Hälfte des Gremiums aus Parlamentsmitgliedern und zur anderen Hälfte aus gewählten Vertretern bestehen soll, fiel mit lediglich 21 Prozent klar durch.
Misstrauen gegenüber dem politischen System
"Das Misstrauen der Chilenen in das politische System sitzt tiefer, als die Politiker ahnen", sagt Claudia Heiss, Politologin an der Universidad de Chile. Dieses Referendum sei auf der Straße und völlig unabhängig von den Parteien erkämpft worden. Historisch an diesem Prozess sei nicht nur, dass die Magna Charta weitgehend vom Volk erkämpft wurde, sondern auch, dass die Verfassunggebende Versammlung paritätisch zwischen Männern und Frauen besetzt werden muss. Unklar bleibt aber weiterhin, inwieweit sich die Kandidatenlisten für Mitglieder der Zivilgesellschaft öffnen.
Präsident Sebastián Piñera wandte sich am Abend an die Bevölkerung: "Das ist ein Triumph aller Chilenen, die wir die Demokratie, die Einheit und den Frieden lieben", sagte der rechte Staatschef, der sich lange gegen das Plebiszit gewehrt hatte. Die Wahlbeteiligung lag nach Angaben der Wahlbehörde Servel über 50 Prozent und war damit die höchste seit Rückkehr zur Demokratie.
An diesem Sonntag war vieles anders als bei vorherigen Urnengängen in Chile gewesen. In Santiago kam es zu Staus. Auch die Schlangen waren vor vielen Wahllokalen beträchtlich. "So etwas habe ich noch nie gesehen", sagte Sara Luengo, Wahlhelferin in der Gemeinde Quilicura im Norden Santiagos, dem SPIEGEL. "Seit dem frühen Morgen wählen vor allem junge Menschen."
Wählen in der Pandemie: Die Wahlbeteiligung war deutlich höher als bei anderen Abstimmungen
Foto: IVAN ALVARADO / REUTERS
Auch die Juristin Tatiana Maldonado ist mit ihren 31 Jahren erstmals überhaupt an die Urnen gegangen. "Bei vorhergehenden Wahlen war es doch egal, für welche Partei oder welchen Kandidaten ich gestimmt hätte. Mit dieser Verfassung ließen sich keine wirklichen Veränderungen erreichen. Das heute ist etwas Historisches, das unser Land nach vorne bringen kann", sagt die junge Frau. "Der Staat muss endlich mehr Fürsorge übernehmen und nicht alles den Privaten überlassen."
In Chile gibt es kaum feste Arbeitsverträge, die meisten Menschen arbeiteten auf Honorarbasis oder zeitlich befristet, ein Streikrecht existiert nicht. Zudem seien Bildung und Gesundheit unbezahlbar, die Pensionskassen privatisiert, kritisiert Maldonado. "Es ist doch absurd, dass du in Chile Kredite aufnehmen musst, um andere Kredite bezahlen zu können."
Eliten profitieren von der aktuellen Verfassung
Viele Jahre galt die Entwicklung Chiles als Erfolgsmodell in Lateinamerika, weil die Wirtschaft stabil wuchs und die Armut reduziert wurde. Doch der Aufstieg basierte auf einer Lehre, die viele Menschen an den Rand des Ruins brachte. Ein Modell, das die "Chicago-Boys" um den Wirtschaftswissenschaftler Milton Friedman entwarfen und in dem die Privatwirtschaft alle Rechte, aber kaum Pflichten hat, Ressourcen nach Belieben ausbeuten darf und in dem sogar das Wasser privatisiert ist. Ein System, das den Starken viele Freiheiten einräumt, aber den Schwachen keine grundlegenden Rechte garantiert. Die aktuelle Verfassung ist ein Lehrbuch für soziale Ungleichheit und Unzufriedenheit mit der Demokratie.
Auch daher ist dieser Sonntag nach Ansicht der überwältigenden Mehrheit der Chilenen nicht das Ende, sondern der Anfang eines Prozesses.
Jetzt stellen sich weitere Fragen: Wer darf an der neuen Verfassung mitschreiben? Wie werden die 1,5 Millionen Mapuche-Ureinwohner eingebunden, die ein Zehntel der Bevölkerung ausmachen und seit Jahrhunderten entrechtet sind. "Daher muss das Volk auch weiterhin den Druck auf der Straße aufrechterhalten", fordert Cristián Talamilla, der 47-jährige Aktivist einer Nachbarschaftsinitiative. "Wir dürfen den Prozess nicht den Politikern überlassen, sonst bekommen wir wieder ein Grundgesetz, das in Hinterzimmern vorfabriziert wurde und nur den Eliten nutzt".