Sozialer Protest in Chile Piñera kündigt überraschend Reformen an

Chiles Präsident Sebastián Piñera bei seiner Fernsehansprache: "Mangel an Weitsicht"
Foto: HO/ Chilean Presidency/ AFPViele Chilenen dachten zunächst an einen schlechten Scherz, als ihnen am Dienstagabend plötzlich ihr Präsident Sebastián Piñera auf den Fernsehschirmen erschien. Kurz vor 22 Uhr trat der umstrittene Staatschef, rote Krawatte, dunkler Anzug, in einer landesweit übertragenen Rede vor die Kameras. Die meisten dachten, jetzt spreche er sicher wieder von "Krieg" und vom "organsierten Verbrechen" im Zusammenhang mit den seit Tagen andauernden Protesten in seinem Land, die bisher 18 Todesopfer gefordert haben.
Aber Piñera vollzog eine Kehrtwende, mit der wohl niemand gerechnet hätte. Statt seine Bevölkerung zu beschimpfen oder zu bedrohen, versuchte sich der 69-Jährige in einem lockeren Duktus als verständnisvoller Landesvater. Er gestand ein, dass er das Ausmaß der sozialen Unzufriedenheit unterschätzt habe. "Ich entschuldige mich für den Mangel an Weitsicht, ich habe die starke Botschaft der letzten Tage verstanden", sagte er und sprach von Missbrauch und Ungleichheit. Vokabeln von denen die Chilenen dachten, ihr Präsident kenne sie gar nicht. Seine eigene und die Regierungen seiner Vorgänger seien nicht in der Lage gewesen, die Frustration der Chilenen in ihrem vollen Ausmaß zu erfassen, sagte Piñera.
Über 3200 Festnahmen am Montag und Dienstag
Nach einer Woche mit schweren Ausschreitungen, Verwüstungen und Plünderungen, aber auch vielen gewaltfreien Demonstrationen kündigte Piñera ein umfassendes Paket von Sozialmaßnahmen an, das 1,2 Milliarden Dollar kosten soll:
- der Mindestlohn soll auf 350.000 Pesos (435 Euro) erhöht werden
- die Renten sollen um 20 Prozent steigen
- eine Stromerhöhung um knapp zehn Prozent soll storniert werden
- Maßnahmen zur Reduzierung der Gesundheitskosten sollen beschlossen werden
- Steuererhöhungen sowie die Senkung der Einkommen von Parlamentariern und hohen Staatsbeamten sind geplant
Am Dienstag war es erneut landesweit zu friedlichen Protesten gegen die Regierung, aber auch Straßenschlachten zwischen Protestierern und der Polizei gekommen. Allein an diesem einen Tag kamen nach einer Bilanz des Innenministeriums drei Menschen ums Leben, insgesamt gab es demnach 269 Verletzte. Laut Ministerium wurden am Montag und Dienstag 3284 Menschen festgenommen, die entstandenen Sachschäden belaufen sich auf mehrere hundert Millionen Euro. Die Börse in der Hauptstadt Santiago brach am Dienstag um 4,6 Prozent ein, der Peso verlor massiv an Wert. Schon jetzt ist klar: Die Proteste werden das südamerikanische Land, das bisher als das wirtschaftlich stabilste der Region galt, um Jahre zurückwerfen.

Protest in Valparaiso: Alle Schichten und Altersgruppen zieht es auf die Straße
Foto: Javier Torres/ AFPIn weniger als einer Woche haben sich die Demonstrationen, die mit Protest gegen eine Erhöhung Ticketpreise für die U-Bahn begannen, zum schwersten und gewaltsamsten Aufruhr seit dem Ende der Diktatur vor bald 30 Jahren entwickelt. Anders als beim Widerstand gegen die hohen Studiengebühren im Jahr 2011 sind es jetzt Menschen aus allen sozialen Schichten und Altersgruppen, die auf die Straße gehen. Sie haben die Nase voll von den hohen Lebenshaltungskosten, dem ineffizienten und überteuerten Gesundheitssystem und ihren zu niedrigen Löhnen und Gehältern. Mehr als die Hälfte der chilenischen Arbeiter muss mit nur 400.000 Pesos (500 Euro) im Monat auskommen.
Das einst stabile Land gleicht einem explodierenden Druckkessel
Zudem ärgert die Menschen die Arroganz der Mächtigen. In einem geleakten Whatsapp-Audio von Chiles First Lady Cecilia Morel hat die Ehefrau von Präsident Piñera zu einer Freundin gesagt: "Wir werden gerade überrollt, wie bei einer Invasion aus dem Ausland, und wir werden wohl unsere Privilegien abbauen und mehr mit den anderen teilen müssen". Inzwischen entschuldigte sich Morel für ihre Worte über den Kurznachrichtendienst Twitter.
En un momento en que me sentí sobrepasada por las circunstancias, envié un audio privado que se filtró. Un estado de ánimo personal lo hice parecer como un estado general de Gobierno. Lamento el desacierto.
— Cecilia Morel Montes (@ceciliamorel) October 22, 2019
Die Aussage der First Lady beweist, dass Piñera und die Regierung schon seit Tagen nicht mehr Herr der Lage in Chile sind. Das einst so stabile Land gleicht einem explodierenden Druckkessel.
Für Mittwoch hatte der Gewerkschaftsdachverband CUT zu einem Generalstreik aufgerufen. 800.000 Arbeiter und Angestellte aus dem privaten und öffentlichen Sektor legten die Arbeit nieder. "Das hier ist kein Problem öffentlicher Ordnung, sondern ein sozialer Konflikt, den man nicht mit Militarisierung löst", sagte Bárbara Figueroa, Vorsitzende der CUT. Nur breit angelegte Gespräche mit allen Bereichen der Gesellschaft könnten den Weg zu einer Lösung ebnen. Am Donnerstag soll der Streik fortgesetzt werden.
Am Dienstag waren bereits die Arbeiter der größten Kupfermine der Welt, der "Escondida", in den Ausstand getreten. "Wir sind Teil eines müden Volkes, das Änderungen fordert", erklärten die Arbeiter. "Wir akzeptieren den Missbrauch der Unternehmer und der Regierung nicht länger". In ganz Chile wollen soziale Organisationen am Mittwoch auf die Straße gehen und Verbesserungen einfordern.
Viele Chilenen sind skeptisch, ob Piñera es ernstmeint
Unklar ist, ob die nun überraschend angekündigten Reformen und der neue, moderate Tonfall des Präsidenten die Lage entschärfen können. Vielen Chilenen gehen die Reformen nicht weit genug. Sie halten sie für kosmetische Verbesserungen an einem neoliberalen Modell, das sie grundsätzlich ablehnen: An dem auf Gewinn optimierten Gesundheits- und Bildungssystem, an Unternehmen, die ohne staatliche Regulierung Preise festlegen und Leistungen einschränken, hat der Präsident bisher nicht gerüttelt.
Viele Chilenen sind skeptisch, ob Piñera es wirklich ernstmeint. Sie fürchten, die Kehrtwende beruhe nicht auf Einsicht in eine falsche Politik, sondern sei eine Panikreaktion angesichts der sich zuspitzenden Lage. Der Präsident selbst ist Unternehmer und einer der reichsten Chilenen, ein Großkapitalist, der an die Regulierungskräfte des Marktes, nicht des Staates glaubt.
Aber er weiß auch, dass in wenigen Wochen zwei internationale Großveranstaltungen in seinem Land geplant sind. Mitte November findet in Chile der Gipfel der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) statt. Zwei Wochen später soll in Santiago der Weltklimagipfel folgen. Wenn die Proteste nicht bald aufhören, dürften wohl beide Events aus dem südamerikanischen Land abgezogen - ein Prestigeverlust, der zudem auch wirtschaftlich schmerzen dürfte. Davor hat Piñera vermutlich am meisten Angst.