Keine Visa in der Pandemie
Wenn das Au-pair-Mädchen nicht kommen darf
Monatelang erhielten Au-pairs kein Visum für Deutschland. Allysa Irwansyah aus Indonesien kann nicht reisen. Und eine junge Witwe und ihre kleinen Kinder warten in NRW weiter auf Unterstützung.
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
Vielleicht wüsste Allysa Irwansyah inzwischen, dass viele Deutsche – anders als in ihrer Vorstellung – gar nicht böse werden, wenn man mit ihnen Englisch spricht. Dass im Herbst wirklich die Blätter von den Bäumen fallen und nicht grün bleiben, wie bei ihr zu Hause in Depok, knapp eine Stunde von der indonesischen Hauptstadt Jakarta entfernt.
Seit mehr als einem halben Jahr wartet die 19-Jährige darauf, dass ihr Abenteuer, wie sie es nennt, ihr Leben nach der Highschool, beginnt. Während ihre Freunde studieren, hilft sie ihrer Mutter beim Wäschewäschen und Kochen. Die Pandemie hat ihre Träume ausgebremst. »Natürlich bin ich niedergeschlagen«, sagt sie.
Allysa Irwansyah wartet in Depok, Indonesien, darauf, endlich ihre Au-pair-Stelle in Deutschland antreten zu können
Eigentlich sollte Allysa Irwansyah schon seit mehreren Monaten 14.000 Kilometer entfernt als Au-pair in Nordrhein-Westfalen leben, bei Ina Salewski* und ihren beiden Kindern, drei und sechs Jahre alt.
Die 36-jährige Politikwissenschaftlerin arbeitet als Angestellte im öffentlichen Dienst. Jede Woche muss sie die Nachmittage neu planen: Können die Großeltern oder Freunde die Kinder von der Schule oder vom Kindergarten abholen? Wann kommt die Babysitterin? Wer geht mit zum Zahnarzt? Dazu kommen Elternabende in der Schule und im Kindergarten, die Schule schließt, ein Kind bekommt Fieber. »Ich habe das Glück, dass ich ein sehr gutes Netzwerk habe, das hilft enorm«, sagt Salewski. »Trotzdem läuft mein Alltag ab wie in einem großen Improvisationstheater.«
Ina Salewski mit ihren Kindern: »Lasst uns doch überlegen, wie es wäre, wenn jemand aus einem anderen Land bei uns einzieht«
Foto: Theodor Barth / DER SPIEGEL
Deswegen hatte sie sich im Januar entschieden, ein Au-pair aufzunehmen. Ihren Kindern hatte sie gesagt: »Lasst uns doch überlegen, wie es wäre, wenn jemand aus einem anderen Land bei uns einzieht.«
Seitdem sind sieben Monate vergangen. Am 21. April hatte Allysa einen Termin bei der Deutschen Botschaft Jakarta. Fünf Tage vorher bekam sie eine Mail mit vielen Ausrufezeichen: »Ihr Termin ist auf unbestimmte Zeit verschoben!«Der neue Termin am 23. Juli wurde knapp drei Wochen vorher storniert.
Eigentlich wurden die Corona-Einreisebeschränkungen für Arbeitnehmer und Freiwillige seit April nach und nach wieder aufgehoben: Erntehelfer, Pflegekräfte und ausländische Studierende konnten wieder nach Deutschland einreisen. Für Au-pair aus Ländern, die nicht zum europäischen Wirtschaftsraum gehören,galt das nicht.
Erst seit wenigen Tagen, seit dem 18. November, können sich angehende Au-pairs, die länger als sechs Monate hierbleiben wollen, wieder um Visa bewerben.
Trotzdem fürchten Gasteltern wie Ina Salewski und Au-pairs wie Allysa, dass es noch Monate dauern wird, bis sie wirklich zusammenwohnen können. Das Auswärtige Amt teilt auf Anfrage mit, dass die Visa-Stellen derzeit nur erheblich eingeschränkt arbeiten. Und auf den Webseiten der deutschen Botschaften in Jakarta oder Hanoi etwa konnte man bis Anfang der Woche noch nicht wieder die Auswahl»Au-pair-Visum« treffen.
Dass viele Au-pairs monatelang quasi ausgesperrt waren, unterstreicht für Lene Borgers vom Bundesverband Au-pair-Society den niedrigen Stellenwert von berufstätigen Eltern in Deutschland. 20.000 bis 30.000 Gastfamilien mit Au-pairs gebe es in Deutschland, schätzt sie. Ungefähr zwei Drittel kämen aus der Europäischen Union (EU), so Borgers, und brauchen deswegen kein Visum. Aus Nicht-EU-Ländern wurden im vergangenen Jahr mehr als 9000 Visumsanträge gestellt, so die Bundesagentur für Arbeit.
»Ein fünfjähriges Kind kann sich vielleicht auch mal zwei Stunden allein beschäftigen. Ein zweijähriges kann das gar nicht.«
Ina Salewski
Die Corona-Pandemie hat einmal mehr eine Art Obduktionsbericht über den Status der Kinderbetreuung in Deutschland geliefert. Das Ergebnis: Noch immer scheint die Annahme zu sein, dass sich mindestens ein Elternteil immer um die Kinder kümmern kann. Erst ab dem 27. April zum Beispiel, knapp sechs Wochen, nachdem Schulen und Kitas geschlossen worden waren, konnten auch Alleinerziehende wie Ina Salewski ihre Kinder in Nordrhein-Westfalen betreuen lassen.
Ein Aspekt, der für die junge Witwe noch immer vollkommen unverständlich bleibt: »Auch Homeoffice wäre schlicht nicht gegangen: Ein fünfjähriges Kind kann sich vielleicht auch mal zwei Stunden allein beschäftigen. Ein zweijähriges kann das gar nicht«, sagt sie. In Deutschland leben acht Millionen Familien mit minderjährigen Kindern. Davon seien 19 Prozent alleinerziehend, also Mütter oder Väter, die allein mit ihren Kindern im Haushalt leben, schreibt das Bundesfamilienministerium.
Lene Borgers kann anhand der Anfragen und ihrer Kunden einen gesellschaftlichen Wandel feststellen. Seit 18 Jahren führt sie eine Au-pair-Agentur in Trier und betreut um die 100 Familien, unter anderem auch Ina Salewski und Allysa Irwansyah. Inzwischen seien knapp 30 Prozent ihrer Kundinnen Alleinerziehende, alle Frauen arbeiteten, berichtet sie. Als sie anfing mit ihrer Agentur, habe keine ihrer Kundinnen Vollzeit gearbeitet, alle seien in Partnerschaften gewesen.
Ina Salewski vor ihrem Haus
Foto: Jann Höfer
Ihre Kunden seien inzwischen sehr unterschiedlich: Lehrer, Ärzte, Pfleger-Ehepaare im Schichtdienst, Krankenschwestern. Was die Familien eint: Sie müssen ein zusätzliches Zimmer haben, das mindestens zehn Quadratmeter groß ist. Sie müssen mit um die 500 Euro pro Monat für ein Au-pair rechnen plus Essen und freies Wohnen.
Salewski weiß, wie viel einfacher Kinderbetreuung in einer Partnerschaft ist. Bis zum vergangenen Jahr hatte sie sich mit ihrem Ehemann die Kinderbetreuung aufgeteilt, »pari pari«, wie sie sagt. An einem Sommertag, als sie nach Frankreich in den Urlaub fahren wollten, die Koffer schon gepackt im Flur standen, starb ihr Ehemann unerwartet.
Seitdem versucht Ina Salewski wieder Fuß zu fassen. »Wir sind noch immer dabei, den Alltag neu zu bewältigen, in einem Leben ohne meinen Mann, ohne den Vater meiner Kinder«, sagt sie. Salewski muss nicht nur arbeiten, um Geld zu verdienen, sie möchte es auch. Doch die Öffnungszeiten von vielen Schulen, Horten und Kitas sind mit den meisten Vollzeitstellen überhaupt nicht vereinbar. Während der Pandemie sind sie noch weiter eingeschränkt.
»Wir sind noch immer dabei, den Alltag neu zu bewältigen, in einem Leben ohne meinen Mann, ohne den Vater meiner Kinder.«
Ina Salewski
Allysa hat zwei kleinere Geschwister, die zehn und vierzehn Jahre alt sind. Pädagogisch ausgebildet aber ist sie nicht. Au-pair-Stellen sind für junge Frauen wie Allysa eine Möglichkeit, eine andere Kultur kennenzulernen und Deutsch zu lernen. Danach will sie Internationale Beziehungen studieren oder eine Ausbildung machen. Ihr großer Vorteil vor allem für Alleinerziehende ohne große Familienbindung: Au-pairs sind da, können eine Stunde überbrücken, die Kinder abholen – genau das, was Ina Salewski helfen würde.
Die beiden hatten sich im März gegenseitig durch Fragebögen und Skype-Gespräche ausgesucht. Allysa fand es gut, dass Ina im Gegensatz zu anderen Familien bei den To-dos nicht Abwaschen und Wäschewaschen markiert hatte. Die beiden blonden Kinder sahen süß aus, Ina ist ihr sympathisch. Ina fand es schön, dass Allysa auf die Frage »Warum willst du nach Deutschland?« antwortete: »Weil ich mal vier Jahreszeiten erleben will.«
Morgens um acht Uhr verlässt Ina Salewski meist mit den Kindern ihr Haus, sie geht zur Arbeit, die Kinder in die Schule oder in den Kindergarten. 14.000 Kilometer und sechs Stunden Zeitverschiebung entfernt sitzt Allysa im Schneidersitz auf ihrem Bett, neben ihr eine Freundin aus dem Deutschkurs. An diesem Abend wollen die beiden eine Pyjamaparty machen. Sie haben ihr A1-Zertifikat bestanden und überlegen, noch einen weiteren Kurs zu belegen oder deutsche Musik und Serien im Internet zu streamen, um sich auf das Auslandsjahr vorzubereiten.
Allysa Irwansyah: »Ich bin die Erste in meiner Familie, die im Ausland leben wird«
Foto: privat
Auf diese Weise hat Allysa auch ihr Englisch verbessert, weshalb sie redet wie in einer amerikanischen Vorabendserie. »Ich will die Welt entdecken«, sagt sie und lacht. »Ich bin die Erste in meiner Familie, die im Ausland leben wird.«
Im August, als sie längst schon bei der Familie von Ina Salewski wohnen sollte, begann sie, in ihrem Kinderzimmer Duftkerzen herzustellen. Diese verkauft sie jetzt über Instagram. Eine Beschäftigung und ein kleiner Job – bis sie irgendwann doch nach Deutschland fliegen kann.
*Die Gesprächspartnerin möchte anonym bleiben, ihr richtiger Name ist der Redaktion bekannt.
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