Nachtleben nach Corona One Night in Wuhan

Nachtleben in Wuhan im September 2020
Foto:Getty Images
An einem Mittwochabend im Oktober ist das Vox Live House in Wuhan etwa zur Hälfte gefüllt. Unter bunten Scheinwerfern drischt ein glatzköpfiger Mann auf eine bauchige Trommel, eine junge Frau bearbeitet ein traditionelles Saiteninstrument, der Keyboarder singt aus voller Kehle ein klagendes Lied. Ein treibender, experimenteller, dabei ziemlich chinesischer Sound.
Vor der Bühne wippt das Publikum Schulter an Schulter mit, kaum jemand trägt Maske. Hinten im Barbereich plaudern Gäste bei einem Bier oder beschäftigen sich mit ihren Handys, wegen der Band sind sie offenbar nicht gekommen. Ein scheinbar normales Konzert in Wuhan. Pandemie, war da was?
Schon im August hatten Bilder aus Wuhan globales Aufsehen erregt. Sie zeigten Menschen in einer Stimmung, nach der man sich auf der ganzen Welt zurücksehnt: in geselliger Ausgelassenheit. Im hüfthohen Wasser eines Spaßbads feierten Tausende eine Party. Ausgerechnet in der zentralchinesischen Millionenstadt, wo im Dezember die ersten Corona-Infektionen festgestellt worden waren

Party im Spaßbad: Feiernde in Wuhan
Foto:STR / AFP
Die Badesaison ist mittlerweile auch in Wuhan vorbei. Doch in den Bars, Restaurants und Museen, auf den Uferpromenaden und Nachtmärkten der Stadt ist das soziale und kulturelle Leben wieder in Gang gekommen – auch wenn die einstige Normalität noch nicht ganz wiederhergestellt ist. Welche Spuren hat der Lockdown hinterlassen?
"Erst seit Kurzem fühle ich wirklich, dass Wuhan wieder in der Spur ist", sagt der 22-jährige Bandleader Yang Zongxun. Er trägt langes Haar und einen Kapuzenpulli mit dem Schriftzug "Kitzbühler Ski, heimische Wertarbeit". Gigs wie den im Vox Live House spiele seine Band inzwischen wieder jede Woche. An ihren ersten Auftritt nach der Corona-Zwangspause, der erst im September stattfand, erinnert er sich genau: "Das Gefühl war ambivalent. Ich war aufgekratzt, aber auch panisch, weil wir so lange auf keiner Bühne gestanden hatten. Doch sobald wir zu spielen anfingen, habe ich alles vergessen – und einfach den Augenblick genossen."
Für Wang Yunpeng kam die Arbeit früher zurück– um genau zu sein, hatte sie nie ganz aufgehört. Die Wuhaner Brauerei Nr. 18 Brewing, deren Marketing er verantwortet, hatte ihre Kunden das ganze Frühjahr hindurch per Lieferboten mit Craftbeer versorgt.
Wie jedes Jahr brachten sie zur Kirschblüte im Frühjahr ein saisonales Bier auf den Markt, doch diesmal fiel ihnen dafür ein Name ein, der landesweit verfing: Wuhan Jia Hazi You, was sich frei als "Bleib stark, Wuhan" übersetzen lässt. Diese Durchhalteparole hatten die Einwohner einander während des Lockdowns von ihren Balkonen aus zugerufen. Das so benannte Bier wurde zu einem kleinen Symbol des Wiedererwachens der Stadt; die Bestellungen, die aus ganz China eintrafen, zu einem Akt der Solidarität.
Ihre drei Schankstuben in Wuhan öffnete Nr. 18 Brewing schon am 8. April wieder, dem Tag, an dem der Lockdown offiziell aufgehoben wurde. "Im April und Mai hatten wir größere Gruppen als sonst", sagt Wang. "Die Leute hatten ein Bedürfnis, zusammenzukommen und ihre Geschichten zu teilen." Exzesse habe er dagegen keine beobachtet: "Ich sehe nicht, dass die Leute mehr trinken. Aber sie wollen mehr interagieren, sie legen ihre Smartphones weg."
Auch für Wang persönlich hat sich etwas geändert. Im vergangenen Jahr, erzählt er, habe Nr. 18 Brewing als erste chinesische Craftbeer-Brauerei bei einem Wettbewerb in Deutschland Gold gewonnen. "Wir dachten, wir könnten China repräsentieren", sagt er. "Aber mit der Pandemie ist uns klar geworden, dass wir eine lokale Brauerei sind. Vorher wusste niemand, wo Wuhan liegt, jetzt wissen es alle." Er macht ein Geräusch, das Resignation und Trotz zugleich ausdrückt - zwar kennt nun alle Welt seine Stadt, doch man assoziiert wenig Positives mit ihr. Sei’s drum, so darf man Wang wohl verstehen. "Alle unsere Mitarbeiter stammen von hier", sagt er. "Wir haben gelernt, was uns miteinander verbindet."

Nachtklub Hepburn in Wuhan im August 2020
Foto: Yan Cong / Bloomberg / Getty ImagesIn vielen Gesprächen, die man dieser Tage in der Stadt führen kann, kommt dieses Gefühl durch: Wir Wuhaner tragen unverschuldet ein Stigma, aber das kann uns nicht beschämen - im Gegenteil, wir machen es zum Teil unserer Identität. Es ist ein Gefühl von Veteranen, die wahres Verständnis nur bei denjenigen finden, die das Gleiche durchlitten haben.
"Auch wir sind stolz, meine Familie und ich", sagt Timo Balz. "Denn wir waren mittendrin, wir haben das gemeinsam überstanden." Der gebürtige Stuttgarter lebt seit Jahren in der Stadt, er ist Professor für Geodäsie an der Wuhan University. Die Monate des Lockdowns verbrachte er mit Frau und Kindern isoliert in deren Wohnung.
Die Gegend um den Campus, die er gut kennt, hat sich seither gewandelt: Viele Lokale haben es nicht überlebt, dass die Studierenden wegblieben. Mit dem Semester fing im September der Präsenzunterricht wieder an, nun machen neue auf. Das Café, das Balz für ein Treffen ausgesucht hat, existiert erst seit wenigen Monaten: Rohes Holz und hohe Decken; Hipster mit Strickmützen bestellen Waffeln und Milchkaffee.
Nach der Quarantäne, sagt Balz, hätten viele Wuhaner sich nur zögernd in Gesellschaft gewagt. Zu tief saß die Angst. Ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als die Behörden nach 35 Tagen ohne berichtete Neuinfektionen im Mai ein kleines Cluster entdeckten - und beschlossen, innerhalb von zwei Wochen die gesamte Einwohnerschaft von elf Millionen Menschen zu testen. "Erst danach hat die Stadt sich deutlich entspannt", sagt Balz. "Es war fast wie eine Katharsis." Er hat sich in seinen Kalender eingetragen, wann er selbst mit seiner Familie erstmals wieder ein Restaurant besucht hat, es war im Juli.
"Ich habe den Eindruck, dass die Leute freundlicher geworden sind", sagt Balz. "Ob das hält, weiß ich nicht. Wuhan ist keine freundliche Stadt." Stahlwerke, Punkmusik und üble Schimpfwörter - dafür sei sie bekannt.
Auch im Javanese Air geht es eher ungeschliffen zu. Am geschmiedeten Eingangstor der Bar turnen zwei Ara-Papageien, das Innere hat der Betreiber mit indonesischen Schnitzereien dekoriert, ein Mix aus Neuköllner Eckkneipe und Piratenschiff. Der Freitagabend hat langsam begonnen, doch mit Anstieg von Gästezahl und Alkoholpegel herrscht gegen 23 Uhr fröhlicher Lärm. Insbesondere ein Würfelspiel trägt zur Erheiterung bei, es wird an vielen Tischen gespielt, man muss dabei wenig denken und viel trinken.
Der Nachhauseweg führt über einen Nachtmarkt. Verkäufer von gegrilltem Tintenfisch und scharf gewürzten Entenhälsen packen ihre Stände zusammen, über einem Tisch auf dem Bürgersteig ist ein Mann eingeschlummert. Feierabend nachts um halb eins. Die Stadt geht wieder aus, aber sie übertreibt es nicht damit.
Vielleicht ist das eine Lehre aus Wuhan: Das alte Leben kommt nicht wie auf Knopfdruck zurück, sobald die Behörden die Krankheit für besiegt erklärt haben. Vielmehr scheint es ein schrittweiser, tastender Prozess zu sein, den nicht alle im selben Tempo mitgehen. Manch Altes überlebt, manch Neues entsteht, und manche Veränderung bleibt.