Das Beben von Bam Der Tag, an dem Zarahs Stadt unterging
Zarah Tahemasebzadeh singt mit heller Stimme die letzte Strophe. Ihr Lied ist zu Ende. Doch die Kinder bleiben still. Nur der Motor brummt tief. Ein loses Blech klappert, als der Bus über den Asphalt rattert.
Tac, tac, tac.
Zarah blickt auf, in ihren Augen stehen Tränen. Jeder weiß, was die Zwölfjährige fühlt. Die Traurigkeit hat sich in die Gruppe geschlichen.
Viele lange Sekunden später kommt der Bus ächzend zum Stehen. Mit leisen Zischen öffnen sich die Türen, draußen lachen und albern die über 50 Mädchen und Jungen wieder um die Wette, zeigen sich stolz ihre Einwegkameras. Mit denen sollen sie ihre zerstörte Stadt fotografieren, dazu ihre Gedanken aufschreiben.
Daraus entstand ein Buch. Das Projekt gehörte zu den vielen psychosozialen Angeboten des Iranischen Roten Halbmonds nach dem Beben vom 26. Dezember 2003 in Bam. Selbst ein eigenes Puppentheater gab es. Topolino zog durch die Zeltcamps, brachte Kinder wieder zum Lachen.
Niemand, der nicht um einen nahen Menschen trauert
Topolino hatte eine schwere Aufgabe in einer Stadt, die nur noch aus Trümmern bestand. In der 26.000 Frauen, Männer und Kinder ihr Leben verloren. In der es so gut wie niemanden gab, der nicht um einen nahen Menschen trauerte.
Mehr als vier Jahre ist es jetzt her, dass Zarah Tahemasebzadeh ihr Lied in dem Bus sang. Für das Buch hatte sie eine Tür fotografiert, die unversehrt inmitten eines Trümmerfelds stand. "Wenn es eine Tür gibt, dann muss es weiter Menschen geben, die durch sie ein- und ausgehen - und dann muss ich mich nicht so alleine fühlen", hatte sie neben das Bild geschrieben. Viele ihrer Verwandten fanden in den einstürzenden Häusern den Tod.
Fünf Jahre sind seit dem Beben vergangen. Aus der zwölfjährigen Zarah ist schon fast eine junge Frau geworden. "Sie hat gute Noten", lobt ihre Mutter. Anwältin will Zarah Tahemasebzadeh werden: "Weil Gerechtigkeit so wichtig ist." Vom Staat erhielt ihre Familie ein kleines Fertighaus und einen günstigen Kredit für den Wiederaufbau.
Auf ihrem Grund steht der Rohbau eines imposanten zweistöckigen Hauses. Doch jetzt ist das Geld knapp geworden. Der Kredit ist verbaut und allein mit der Rente ihres Vaters wird es schwer werden, das Haus fertigzustellen.
Vielleicht hätte ihr Vater ein kleineres Haus bauen sollen. Doch es sollte so schön sein wie das alte. So schön wie früher, das hat er sich gewünscht. Zarah Tahemasebzadeh kann ihn verstehen. Dass es wieder so ist wie früher, das wünscht sie sich auch oft. Tag für Tag und manchmal Stunde für Stunde.
Das Erdbeben hat ihrem Vater das Herz gebrochen, das weiß die 17-Jährige. Und wie schwer es ist, ihm beizustehen, wenn die Traurigkeit ihn gefangen hält.
Archäologen rekonstruieren das Weltkulturerbe
In Bam wird viel gebaut. Überall ragen die Stahlträger auf, ein mächtiges Stadion steht mitten in der Stadt. An der Arge, der zerstörten historischen Zitadelle, arbeiten die Archäologen, um Stück für Stück des Weltkulturerbes wieder auferstehen zu lassen. Auch die Schule, die Zarah besucht, ist ein Neubau. Es gibt neue Gesundheitszentren des Roten Halbmonds und Krankenhäuser. Bald ist der Basar wieder fertiggestellt. Schritt für Schritt kehrt ihre Stadt in die Normalität zurück. Doch es ist ein schwerer und steiniger Weg.
Die Trauer um verlorene Menschen bleibt. Manchmal muss die Zarah an sie denken, wenn sie an Trümmern eines zerstörten Hauses vorbeigeht. Wenn sie alte Fotos ansieht. Dann versucht sie zu verstehen, wie es möglich ist, dass sich innerhalb von zwölf Sekunden eine ganze Welt ändern kann, wenn die Erde bebt.
Zarah Tahemasebzadeh hat ihren eigenen Weg gefunden, mit dem Schmerz umzugehen. Einen ganzen Band voller Gedichte hat sie schon verfasst. "Das Leben ist schön für die, die das Schöne suchen", sagt sie.
Schneiderkurse gegen die Not
Keine 800 Meter vom Haus der Tahemasebzadehs entfernt steht das Zentrum des Roten Halbmonds. Im ersten Stock rattern die Nähmaschinen. "Die unsichtbaren Wunden brauchen am längsten, um zu heilen", meint Zinat Ebrahimi. Die 40-Jährige leitet einen Schneiderkurs. Auch der gehört zum psychosozialen Programm des Roten Halbmonds. Die Schicksale aller Teilnehmerinnen hat das Erdbeben auf tragische Weise verändert. Sie haben ihre Männer oder auch Kinder verloren. Oder mussten den Verlust von Geschwistern und Eltern ertragen.
"Die Schneiderkurse geben ihnen Halt, sie können ihr erworbenes Können praktisch nutzen. Einige von ihnen werden vielleicht damit ein kleines Geschäft betreiben können", sagt Zinat Ebrahimi.
Fast 1000 Menschen nehmen die Betreuungsangebote des Roten Halbmonds in Bam wahr. Das Deutsche Rote Kreuz hat den Aufbau einer Sporthalle der Jugendorganisation des Roten Halbmonds finanziert. Dort übt sich die Jugend in Ballspielen und Karate. Es gibt Computerkurse, Musik-Workshops und Koran-Klassen.
Eine junge Teilnehmerin des Schneiderkurses hat in mühsamer Kleinarbeit eine rote Rose in ein weißes Tuch gestickt. "Wunderschön", sagt Zinat Ebrahimi. Ihre Schülerin blickt mit einem Lächeln auf das Stück Stoff vor ihr, lässt den Finger über die Blume gleiten.
Der Held von Bam
Zwei Kilometer weiter werden an diesem Tag viele Blumen auf die Gräber gelegt. Es ist Donnerstag, und die Menschen von Bam kommen auf den Friedhof, um ihrer Toten zu gedenken. Im Hintergrund ragen zwei gewaltige Schutthügel auf, über zwölf Millionen Tonnen Trümmer des alten Bams sind dort aufgehäuft.
Ali Hafeziyan steht am Grab seiner Familie. Für die Menschen von Bam ist der 48-Jährige ein Held. Er leitete den Einsatz des Roten Halbmonds nach dem Erdbeben. 86 Verwandte verlor er, darunter auch seine engste Familie.
Dass er trotzdem die Kraft fand, den Einsatz zu leiten, werden ihm die Menschen nie vergessen. Die Trauer in seinem Gesicht schmerzt. Mohamed Babiker, der Vertreter der Internationalen Föderation des Roten Kreuzes und Roten Halbmonds legt Blumen auf die Gräber der Familie Hafeziyan.
Babiker ist zum ersten Mal in Bam, aber als er die Trauernden auf dem Friedhof sieht, beginnt er zu verstehen. Zu verstehen, wie tapfer Zarah Tahemasebzadeh sein muss, wenn sie gelernt hat, wieder das Schöne im Leben zu suchen.