"Das Gewissen Afrikas" Julius Nyerere ist tot

Der Präsident von Tansania bezeichnete sich selbst als "Vater der Nation". Für seine Landsleute war er "Mwalimu", der Lehrer: Julius Kambarage Nyerere, der 21 Jahre lang regiert hat, wollte für sein Land einen eigenen afrikanischen Sozialismus, ein Vorhaben, mit dem er gründlich scheiterte.

Nairobi - Er wurde "das Gewissen Südafrikas" genannt. Nach seinem Rückzug aus der aktiven Politik 1985 engagierte Nyerere sich als Vermittler in zahlreichen Krisen und Sprecher des südlichen Afrika. Als 26. Kind eines Häuptlings im damaligen Tanganjika wuchs Julius, der "Regengeist", so sein Zweitname Kambarage auf Suaheli, in der Nähe des Viktoriasees auf. An sein exaktes Geburtsdatum konnte sich seine Mutter, die 18. von 22 Ehefrauen seines Vaters, später nicht mehr erinnern. In Biographien wird es mit 1. März 1922 angegeben.

Nach einem Lehramts-Studium in der ugandischen Hauptstadt Kampala, besuchte der Benediktiner-Schüler als erster Afrikaner der damaligen Kolonie Tanganjika eine britische Hochschule. In Edinburgh wurde er Magister in Geschichte und Wirtschaftswissenschaften. Dass der als intelligent und humorvoll charakterisierte Akademiker auch noch andere Interessen hatte, bewies Nyerere, indem er Shakespeares "Kaufmann von Venedig" den Lesern seiner Heimat in Suaheli übersetzte.

Als Präsident der Unabhängigkeitspartei "Tanganyika African National Union" (TANU) führte Nyerere die Kolonie 1961 in die Unabhängigkeit. Nach der Vereinigung der Insel Sansibar mit dem jungen Staat wurde er drei Jahre später Staatspräsident Tansanias. "Lasst andere zum Mond fliegen, wir müssen arbeiten, um uns zu ernähren", so die Devise, mit der er seine Idee von einem Sozialismus afrikanischen Wesens pries.

30 Jahre lang predigte der Lehrer seinem Volk das Dogma des "Ujamaa", des Gemeinsinns, eine sozialistische Agrarpolitik nach chinesischem Muster. Danach wurden bis 1975 rund neun Millionen Menschen in landwirtschaftlichen Kollektiven zusammengeführt.

Mit dem Ziel, den Staat aus eigener Kraft aufzubauen, vermittelte Nyerere den Tansaniern einerseits Selbstvertrauen und ein Nationalbewusstsein, wie es im postkolonialen Afrika selten existiert. Auf der anderen Seite scheiterte der Sozialist mit seinem Anspruch der Eigenverantwortung: Kein anderer afrikanischer Staat bekam mit über elf Milliarden Mark so viel Entwicklungshilfe wie Tansania.

Auch die Idee eines Staates, der ohne Militär existieren kann, blieb Utopie. Nachdem der ugandische Staatschef Idi Amin 1978 sein Land angegriffen hatte, marschierten tansanische Streitkräfte im Nachbarland ein und verhalfen Milton Obote damit zur Macht.

Nyerere, dessen Charisma im In- und Ausland vielfach bewundert wurde und der auf der Weltbühne stets für den fairen Dialog eintrat, hörte ungern Kritiker in den eigenen Reihen. Bis zum Ende der 70er Jahre saßen in Tansanias Gefängnissen mehr politische Gefangene als in denen Südafrikas.

Nachdem er bei Wahlen stets einziger Kandidat geblieben war, legte Präsident Nyerere 1985 freiwillig sein Amt nieder. Sein sozialistisches Wirtschaftsmodell war gescheitert, Weltbank und Internationaler Währungsfonds drehten den Geldhahn zu. "Natürlich haben wir jetzt einen anderen Typus des afrikanischen Führers. Und ich bin froh darüber. Wir mussten damals Visionäre sein", zitierte die Presse Nyerere kürzlich. Eine Vision überlebt den weltweit geachteten Staatsmann, der bis zum Schluss viele Fäden in Tansanias Politik zog: Es ist die Idee einer ostafrikanischen Föderation.

Antje Passenheim

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten