De Maizière zum Afghanistan-Einsatz "Wir haben unsere Opferbereitschaft bewiesen"

Verteidigungsminister De Maizière: "Mussten unsere Ziele korrigieren"
Foto: POOL/ REUTERSSPIEGEL ONLINE: Herr Minister, vor genau zehn Jahren hat der internationale Einsatz der Nato-Schutztruppe Isaf begonnen. Nun leitet das Bündnis schrittweise den Rückzug ein. Was hat der Einsatz bisher erreicht?
De Maizière: Die Frage, was man erreicht hat, hängt immer davon ab, welche Ziele man sich gesetzt hatte. Für die Debatten, die wir jetzt führen, habe ich mir noch einmal die Bundestagsdebatte aus dem Herbst 2001 angesehen. Die glühendsten Befürworter des Mandats waren damals Politiker wie der Grünen-Abgeordnete Christian Ströbele oder die SPD-Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Wie andere traten sie damals mit einer hohen menschenrechtlichen Motivation und der Vision auf, dass man in Afghanistan mit Hilfe der Bundeswehr eine freie Demokratie nach deutschen Standard schaffen wolle. Legen wir dieses als Ziel zu Grunde, haben wir unser Ziel verfehlt, das muss man ehrlich sagen.
SPIEGEL ONLINE: Das klingt ziemlich ernüchtert.
De Maizière: Es war eine Ernüchterung und für viele von uns schmerzhaft, dass wir unsere Ziele korrigieren mussten. Doch es war notwendig. Es hatte keinen Sinn, Illusionen hinterher zu laufen. Misst man das Erreichte dagegen an den heruntergeschraubten Zielen, haben wir durchaus etwas erreicht in Afghanistan: Es gibt mehr Schulen als unter den Taliban, die Gesundheitsversorgung hat sich gebessert, es gibt mehr Meinungsfreiheit. Auch wenn wir mit dem Grad der Erfolge nicht immer zufrieden sein können, muss man das sehen. Wir müssen aber auch deutlich konstatieren, dass in Afghanistan keine richtige Demokratie entstanden ist und vielleicht auch dort nie Fuß fassen wird.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie die heruntergeschraubten Ziele einmal klar definieren?
De Maizière: Unser Ziel war von Beginn an, dass Afghanistan nicht wieder Operationsbasis und Versteck des internationalen Terrorismus wird wie vor dem 11. September 2001. Das können wir im Moment sicherstellen. Das zweite Ziel ist ein angemessenes Maß von Sicherheit unter afghanischer Führung, also die Ausbildung und Aufstockung der afghanischen Armee. Da sind wir auf einem guten Weg, und doch warne ich jeden, der die kommenden Jahre bis zum geplanten Abzug 2014 zu optimistisch sieht.
SPIEGEL ONLINE: Wieso?
De Maizière: Es wird Rückschläge geben, da bin ich mir sicher, die Aufgabe ist noch lange nicht erledigt. Wir werden den Afghanen mehr und mehr die Verantwortung übertragen und übertragen müssen. Das wird nicht reibungslos ablaufen. Ich vergleiche das gern mit einem Kind, das Fahrradfahren lernt. Irgendwann muss man ihm die Stützräder abnehmen und riskieren, dass es stürzt. In Afghanistan können solche Stürze oder Fehltritte der neuen Armee natürlich für die Afghanen aber auch für die Bundeswehr weitergehende Folgen als Schrammen und offene Knie haben, darüber muss sich jeder bewusst sein.
SPIEGEL ONLINE: In der öffentlichen Diskussion ist hauptsächlich vom Abzug der Truppen die Rede, dieser wird von einer Mehrzahl der Wähler eingefordert. Tatsächlich ist militärisch eine Trendwende zu erkennen. Doch kommt der Abzug, der schon 2012 beginnen soll, nicht zu schnell?
De Maizière: Der Beschluss der Regierung, den wir erarbeitet haben, ist ein Kompromiss: Er ist militärisch vertretbar und politisch zustimmungsfähig. Politisch können sowohl wir in der Regierung als auch große Teile der Opposition dieser Formel zustimmen. Militärisch ist der bisherige Plan vertretbar, weil er auch an die afghanische Führung eine klare Botschaft sendet: Diese muss nun mehr tun als bisher, um die Verantwortung im Land in die eigenen Hände zu nehmen. Es war in Afghanistan aus meiner Sicht viel zu lange so, dass die zunächst zeitlich unlimitierte Unterstützung durch internationale Soldaten fast einschläfernd bequem auf die Afghanen wirkte. Ohne einen klaren Abzugsplan, auch wenn der ambitioniert ist, aber hätte man die afghanische Regierung niemals bewegen können, endlich mehr für den Aufbau der eigenen Armee und eines funktionierenden Verwaltungsapparats zu tun.
SPIEGEL ONLINE: Gleichwohl scheint der Abzug kaum noch von der Entwicklung bei den afghanischen Sicherheitskräften oder der Regierung abzuhängen - schließlich wollen ja alle Nato-Nationen abziehen.
De Maizière: Wir werden keine unverantwortliche Politik zulassen, sondern immer nur verantwortlich versuchen, die Truppenstärke zu reduzieren. Was wir im nächsten Jahr mit dem neuen Mandat tun werden, wird eine leichte Ausdünnung in allen Truppenteilen und eine Rücknahme von wenig genutzten Fähigkeiten der Truppe in Afghanistan sein. Zusätzlich wird die bisherige Reserve abgeschafft. Man darf das aber nicht falsch verstehen. Die Kampfkraft der Truppe wird im kommenden Jahr nicht zurückgefahren, denn wir werden einen robusten Anteil für die unruhigen Regionen in unserem Kommandobereich weiter brauchen. Die Bundeswehr wird 2012 und danach in der Lage sein, auf gefährliche Situationen mit einer deutlichen Antwort zu reagieren.
"Ich werde kein Vakuum in Sachen Sicherheit zulassen"
SPIEGEL ONLINE: Sie sprechen von den heikelsten Regionen im Norden, die Hochburgen der Taliban nahe Kunduz oder bei Baghlan. Besucht man Kommandeure dort, sagen die sehr offen, dass sie einen Abzug auch nach zwei Jahren der Kämpfe gegen die Aufständischen unrealistisch finden.
De Maizière: Ich kann natürlich nicht in die Zukunft sehen, doch ich kenne die Sorge. Wir haben in den letzten zwei Jahren in den genannten Regionen sehr viel erreicht, auch durch harte Kämpfe und mit Toten, die wir zu beklagen hatten. Wir werden diese robuste Strategie zur Verdrängung der Aufständischen und anderer Gruppen in den kommenden zwei Jahren fortsetzen. Die Regionen Kunduz und Baghlan werden aber sicher unruhig bleiben, sie sind für uns und die Aufständischen taktisch gesehen sehr wichtig, allein schon wegen der Transporttrasse durch den Norden. Ein Abzug dort wird also schwierig. Jedenfalls werde ich als Verteidigungsminister kein Vakuum in Sachen Sicherheit zulassen - weder in den genannten Gebieten noch irgendwo anders in Nordafghanistan. Wir ziehen nur dort ab, wo die afghanischen Kräfte die Verantwortung wirklich übernehmen können, alles andere wäre Wahnsinn.
SPIEGEL ONLINE: Bei den vielen Zweifeln an der Leistungsfähigkeit der afghanischen Armee wirkt das ein bisschen wie Zwangsoptimismus.
De Maizière: Ich mache bewusst keine Versprechungen, sondern orientiere mich an der Lage vor Ort. Im Moment sagen mir die Berichte, dass ich gedämpft zuversichtlich sein kann - nicht mehr und nicht weniger. In den vergangenen Monaten haben wir uns sehr auf Zahlen beim Aufwuchs der afghanischen Armee konzentriert, nun müssen wir auf die Qualität achten. Da liegt noch eine Menge Arbeit vor uns. Wir müssen die Vorgesetzten besser schulen, und wir müssen beim Nato-Gipfel in Chicago wohl auch darüber entscheiden, wer aus der internationalen Gruppe von in Afghanistan engagierten Ländern in Zukunft für die Erhaltung dieser afghanischen Armee bezahlen will und wie diese ausgerüstet werden sollen.
SPIEGEL ONLINE: Die afghanische Armee ist ohne Zweifel ein wichtiger Pfeiler für ein stabiles Land, der wichtigere aber ist doch die afghanische Regierung. Gerade eben hat der seit 2001 amtierende Präsident Hamid Karzai der Weltgemeinschaft wieder einmal Reformen für eine bessere Regierungsführung, mehr Gerechtigkeit und einen entschlossenen Kampf gegen die Korruption versprochen. Können Sie diesen Versprechen noch glauben?
De Maizière: Eins muss man ganz klar sagen: Der politische Prozess in Afghanistan hinkt massiv hinter dem her, was wir militärisch leisten können und auch geleistet haben. Das muss man den Akteuren in Afghanistan aber auch in der Region immer wieder sagen. Karzai wird in den nächsten Monaten beweisen müssen, dass er es ernst mit seinen Ankündigungen meint, sonst wird er unglaubwürdig.
SPIEGEL ONLINE: In Bonn hätten Sie die Gelegenheit gehabt, ihm das persönlich zu sagen.
De Maizière: Es ist nicht meine Aufgabe, in den Feldern der Außenpolitik besserwisserisch Hausaufgabenzettel zu verteilen. Gleichwohl weiß jeder, dass bei dem politischen Prozess in Richtung einer einigermaßen erträglichen Regierungsführung in Kabul bis hin zu dem höchst komplexen Versöhnungsprozess mit den Taliban noch viele schwierige Aufgaben vor uns stehen. Dass die militärischen Fortschritte momentan etwas besser aussehen als die politischen, ist zwar nicht schön, aber aus Sicht eines Verteidigungsministers natürlich auch kein Tadel für meine Soldaten und Soldatinnen, die einen hervorragenden Job machen.
SPIEGEL ONLINE: Wenn wir mal weggehen von den Details des Einsatzes hin zur Bedeutung der Mission für die Nato und Deutschland. Wie hat die Isaf-Mission das Bündnis verändert?
De Maizière: Die Afghanistan-Mission geht ja schon heute weit über das Bündnis hinaus, es sind auch viele Nicht-Nato-Staaten dort engagiert. Ich glaube, die Mission hat die Zusammenarbeit innerhalb der Nato erstmals voll ausgetestet und hat sich bewährt. Wenn Sie heute in Afghanistan unterwegs sind, arbeiten Deutsche so selbstverständlich mit US-Soldaten, Briten oder eben auch Kameraden aus der Mongolei zusammen. Auf dem Boden wurden Berührungsängste abgebaut, und die Operationsführung hat sich extrem professionalisiert. So etwas kann man nicht bei Manövern üben, das geht nur in der Praxis. Ohne eine solche Entwicklung hätte es vielleicht eine Mission wie in Libyen gar nicht gegeben. Bei allem Gerede über die Krise der Nato muss man dies auch sehen: Noch nie haben die Nationen des Bündnisses so eng kooperiert und werden das auch über das Ende der Operation am Hindukusch hinaus tun. Dieses Rad kann man nicht mehr zurückdrehen.
SPIEGEL ONLINE: Gleichwohl will wohl kaum ein Nato-Land eine neue Bodeninvasion wie in Afghanistan wagen, oder?
De Maizière: Aus meiner Sicht hat keine Nato-Nation ein Interesse an einer Intervention per Invasion. Diese Sicht hat aber doch Vorteile: Vermutlich wird niemand in der Zukunft Alleingänge mehr wagen, eher wird man sich zusammentun und wie im Fall von Libyen sogar mit der Legitimation eines Uno-Mandats agieren. Das schwächt Verdachte, dass einzelne Nationen aus ureigenen Interessen einen solchen Einsatz beginnen.
SPIEGEL ONLINE: Deutschland würde bei solchen gemeinsamen Missionen, wie auch im Fall Libyen, sicherlich auch immer wieder mit Anfragen zur Teilnahme beglückt. Ist das Land bereit für neue militärische Abenteuer?
De Maizière: Es geht nicht um Abenteuer. Der Afghanistan-Einsatz hat nicht nur die Bundeswehr, sondern die gesamte Bundesrepublik einschneidend verändert. Deutschland hat sich mit dem Einsatz, so umstritten er war und ist, erstmals als vollwertiges und belastbares Mitglied der Nato bewiesen. Vor der Isaf-Mission hat kaum einer unserer Partner geglaubt, dass deutsche Soldaten wirklich kämpfen können oder dass ihre Führung sich traut, ihnen den Befehl dafür zu geben. Wir haben bewiesen, dass wir das können und auch bereit sind, Opfer zu erbringen. Wir haben das Bild der bewaffneten Sanitäter und Wahlbeobachter abgelegt und sind eine vollwertige Armee geworden, die Respekt bei den Partnern hat. Der Kampf in Afghanistan, der breite Einsatz der Armee im Gefecht, hat die Bundeswehr und Deutschland transformiert, und das wird auch bleiben.
Das Interview führte Matthias Gebauer