Debatte über Grenzkontrollen Die Lunte an Europa gelegt

Italien und Frankreich wollen wegen der Flüchtlingsströme aus Nordafrika die Reisefreiheit im Schengen-Raum einschränken. Das darf die EU nicht zulassen, warnt Alexander Graf Lambsdorff. Der FDP-Europapolitiker wirft Sarkozy und Berlusconi vor, innenpolitisches Kalkül über europäische Interessen zu stellen.
Italiens Premier Berlusconi, Frankreichs Präsident Sarkozy: "Illusion einer Festung Europa"

Italiens Premier Berlusconi, Frankreichs Präsident Sarkozy: "Illusion einer Festung Europa"

Foto: VINCENZO PINTO/ AFP

Auch in Deutschland ist Europa unbeliebter denn je, vom Stammtisch bis zum Bundesverfassungsgericht beteiligen sich alle mal mehr, mal weniger qualifiziert am EU-Bashing. Eines aber sehen alle positiv: Schengen - auch wenn das vielen gar nicht bewusst ist, die sich über Reisefreiheit und weggefallene Passkontrollen freuen.

Seit dem Ausbau der Hochgeschwindigkeitsnetze im Westen sind es von Köln nach Paris nur noch drei Stunden im Zug - ohne Grenzer, die durch die Abteile gehen und Papiere kontrollieren. Im Auto sind stundenlange Rückstaus an der Grenze kaum mehr vorstellbar. Erleichterungen bei Flugreisen und für Millionen von Grenzgängern tun ein Übriges. Das alles ist "Schengen", das war vor kurzem noch undenkbar und ist einmalig auf der Welt. Wer einmal in die USA eingereist ist, weiß, wie Grenzkontrollen andernorts aussehen.

An diese Erfolgsgeschichte legen Silvio Berlusconi und Nicolas Sarkozy jetzt scheinbar bewusst die Lunte. Und das völlig ohne Not.

Aber der Reihe nach. Worüber sprechen wir überhaupt, wenn von Schengen die Rede ist? Zum einen, siehe oben, über Reisefreiheit für Europäer. Zum anderen aber geht es entgegen der landläufigen Meinung beim Schengener Abkommen nicht um längere Aufenthaltsgenehmigungen oder Asylanträge für Angehörige von Drittstaaten. Diese werden weiterhin von jedem Mitgliedstaat einzeln vergeben, auch von Deutschland. Das Schengen-Visum ist nur dafür gedacht, Reisenden aus Drittstaaten für maximal drei Monate das Reisen innerhalb Europas zu erleichtern.

Die Regeln sind flexibel genug

Praktisch heißt das: Der amerikanische Geschäftsmann, der in Frankfurt, Paris und Warschau Termine hat, muss nur einen einzigen Visumsantrag stellen. Auch die japanische Reisegruppe kann ungehindert eine Kulturreise durch Europa unternehmen, ohne dabei an jeder Grenze erneut kontrolliert zu werden.

Und damit kein Schindluder getrieben wird, gibt es einen Computerverbund, in dem jedes Land anfragen muss, ob ein anderes Land einen Antragsteller ablehnt, so dass, wer im italienischen Konsulat kein Visum bekommt, es nicht einfach nebenan im holländischen nochmal probiert. Zudem ist das Ganze flexibel gestaltet, Kontrollen an den Grenzen sind bei Bedarf möglich. So hat Deutschland während der WM 2006 kontrolliert, um die Einreise von gewaltbereiten Hooligans zu verhindern.

Die von Frankreich und Italien geforderte Änderung des Abkommens ist also gar nicht nötig - die Regeln sind schon heute flexibel genug. Viel wichtiger wären zwei andere Punkte. Erstens, die EU braucht eine gemeinsame Asylpolitik - denn das Flüchtlingsproblem werden wir nicht durch Alleingänge der Mitgliedstaaten lösen können. Und zweitens, die Ursachen der Migrationsströme müssen bekämpft werden. Dazu zählt auch die Öffnung der Agrarmärkte, die gerade von Frankreich und Italien immer wieder blockiert wird.

Ist Schengen in Gefahr?

Es spricht nichts dagegen, dass es zukünftig auch größere Mengen tunesischen Olivenöls in unseren Supermärkten zu kaufen gibt - es muss nicht immer aus Spanien, Griechenland oder Italien kommen. Sarkozy und Berlusconi müssen sich entscheiden: Halten sie auch weiterhin die Erzeugnisse aus diesen Ländern außen vor, dann kommen die verhinderten Erzeuger zu uns. Jeder Mensch braucht eine wirtschaftliche Perspektive, auch die jungen Menschen in Nordafrika, über deren demokratische Revolutionen wir Europäer uns zu Recht so freuen.

Ist also Schengen in Gefahr? Sprengen Frankreich und Italien, zwei Gründungsmitglieder der EU, einen der größten Erfolge Europas? Müssen wir vor dem nächsten Mallorca-Flug ein Visum beantragen und stundenlang an der Grenzkontrolle in Palma ausharren? In ihrem gemeinsamen Brief nach Brüssel haben die beiden vage und unspezifisch Änderungen am Schengener System verlangt. Damit haben sie den schwarzen Peter an die EU abgeschoben und können sich zu Hause als eiserne Ritter des Grenzschutzes aufspielen.

Denn darum geht es in Wirklichkeit: In Frankreich sind 2012 Präsidentschafts-, in Italien 2013 Parlamentswahlen. Sarkozy und Berlusconi werden von anti-europäischen Populisten innenpolitisch in die Enge getrieben und wollen, anstatt mutig zu einem der größten Projekte der EU zu stehen, rückwärtsgewandte, nationale Stimmungen für den eigenen politischen Erfolg nutzen. Anstatt klar zu sagen, dass die Welt des 21. Jahrhunderts eine Welt der Migration ist, die man im eigenen Interesse gestalten muss, wird die Illusion einer Festung Europa errichtet.

Doch Schengen ist Teil der europäischen Verträge und um die zu ändern, reichen Frankreich und Italien alleine nicht aus - das wissen auch Sarkozy und Berlusconi. Zur Gefahr wird deren Taktieren erst, sollten sich die anderen Europäer darauf einlassen.

Alexander Graf Lambsdorff (FDP), 44, ist Stellvertretender Vorsitzender der Liberalen Fraktion im Europaparlament (ALDE)
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren