Debattenbeitrag Das Ende der Politik

Börsen-Händler in den USA: Der Politik bleibt keine Zeit zum Nachdenken
Foto: SCOTT OLSON/ AFPDas Ende der Politik - das klingt dramatisch. Und es ist dramatisch. Denn: Politik, vor allem nationalstaatliche, stößt an immer engere Grenzen. Das ist ein verstörender Befund. Er bewegt sich jenseits der oft diskutierten Politikverdrossenheit, und sagt auch wenig aus über die gern diskutierte, aber vordergründige Frage nach der Eignung des politischen Personals.
Es geht darum, ob sich Politik im traditionellen Sinne überhaupt noch organisieren lässt. Und falls nicht - wie die Integration von Gesellschaften denn dann zu bewerkstelligen sein könnte.
Zunächst eine Vorbemerkung: Die Dominanz, die Nationalstaaten seit rund 2000 Jahren und vor allem seit dem Westfälischen Frieden 1648 genossen, vergeht. Globalisierung ist weit mehr als ein Schlagwort. Ein sich global entgrenzender Kapitalismus generiert Ströme (flows), die Grenzen relativ leicht überschreiten, und durch staatliches Handeln immer schwerer einzuhegen und zu kontrollieren sind. Das gilt für Finanz- und Kapitalströme, wie die 2008 ausgebrochene Krise mehr als klar gemacht hat. Es gilt ebenso für Ströme von Menschen, also Migration. Der noch immer relativ stärkste Staat der Welt, die USA, kommt damit an seiner Südgrenze nicht zurande. Wir sind, drittens, Strömen von Inhalten ausgesetzt, sowohl Informationen wie dem Internet, als auch Unterhaltungsströmen (Musik, Filme, soaps, soziale Netzwerke). Auch hier stoßen nationale Regierungen buchstäblich an ihre Grenzen - auch China mit seiner "großen firewall". Kurzum - Politik ähnelt immer mehr nachträglichen und oft vergeblichen Versuchen, lodernde Brände unterschiedlicher Größe zu löschen, als strategischem Handeln.
Der Kernpunkt des Befundes der immer schwächer werdenden Politik lässt sich in fünf Argumente fassen, die auf die Ursachen für dieses beunruhigende Phänomen zielen.
- Erstens, die Herausforderungen an nationale Politik werden immer komplexer, während Politik immer kurzatmiger und unterkomplexer reagiert. Innere, "äußere" und transnationale Einflüsse auf Politik sind kam noch präzise voneinander zu trennen. Das macht zielgenaues Agieren viel schwieriger, als noch zu den "guten Zeiten" von Adenauer, Schmidt und Kohl, die im Nachhinein so populär sind. Ebenso können viele politische Probleme nicht mehr relativ konzentriert und nacheinander behandelt werden. Stattdessen werden sie von außen (Medien) und innen (Parteien, Wahlkreise) alle kurz nacheinander oder zugleich auf die Tagesordnungen gepackt. Politiker trauen sich selten, Prioritäten zu setzen und durchzuhalten. Das führt zu einer nicht mehr zielgerichtet zu bearbeitenden Melange von Herausforderungen. Politik erstickt an einer administrativen Überlast. Überall wird ein wenig gebastelt. Es bleibt keine Zeit, gründlich nachzudenken, Optionen zu prüfen, und strategisch zu agieren. Simultanes Abarbeiten und politisches multitasking führen zu halbgaren Lösungen mit kurzer Halbwertzeit.
- Zweitens, Politik wird immer stärker von sachfremden Aspekten definiert - Medienlagen, Wahlzyklen, und innenpolitische Befindlichkeiten aller Art. Viele gesellschaftliche Handlungsgrenzen sind längst über- und transnational definiert, durch die EU etwa, die WTO, und die genannten globale Ströme. Dem steht ein stilles, aber krasses Desinteresse der Bürgerinnen und Bürger entgegen. Kaum noch finden sich attraktive Sendeplätze und Formate für die klassischen "Auslandssendungen". Auslandbüros werden eingespart, auch bei den öffentlich-rechtlichen Sendern. Im Bereich des Infotainment - Will, Plasberg, Illner, Maischberger, Beckmann - finden sich kaum je "internationale Themen, weil der Souverän, der Bürger, diese schleunigst weg-zappt. "Außenpolitik" findet innenpolitisch kaum mehr statt. Die Leute verstehen es nicht und wollen das auch nicht mehr.
- Drittens, Politik läuft den wirtschaftlichen und sozialen Problemen immer atemloser hinterher, die Halbwertzeit von "Reformen" wird immer kürzer. Die neue Produkte der Kapitalmärkte, vor allem auf die Zukunft bezogene Geschäfte, Derivate, futures, CDO's und Leerverkäufe und die damit verbundenen Umsätze sind von der Politik kaum noch zu greifen, und noch weniger wirksam einzuhegen. Erst recht nicht national. Sätze werden kürzer, Nachrichten flashiger - wie sollen damit komplexe Zusammenhänge analysiert werden? Zudem gibt es die Überlast durch Tausende von Signalen, denen vor allem Funktionseliten jeden Tag ausgesetzt sind: über Handys, E-Mails, Tweets, elektronische Nachrichten (breaking news), soziale Netzwerke, Tauschbörsen, Suchmaschinen, unzählige Werbeansinnen, Telefone, und sogar noch traditionelle Besucher und Versammlungen. All das muss irgendwie (eben: irgendwie) geordnet, sortiert, gezielt ignoriert werden. Verarbeitet werden kann es nicht mehr.
- Viertens, vor allem (aber nicht nur) repräsentative Demokratien verheddern sich in endlos erscheinenden Abstimmungsprozeduren. Zahlreiche formale und informelle Vetospieler wollen eingebunden werden, immer mehr Akteure beanspruchen Mitwirkung, und alle Beteiligten sind in Mehrebenenspielen befangen, die gesellschaftlicher staatliches und überstaatliches Handeln zeitgleich erheischen. Politische Ergebnisse zu strategischen Herausforderungen (Altern der Gesellschaften, die finale Krise des Wohlfahrtsstaates, Bildungsdefizite, Integrationshemmnisse, Identitätsgefährdungen, der relative Abstieg der USA, der relative Aufstieg Chinas, die Dynamisierung der EU usw.) kommen entweder gar nicht zustand, oder in Mini-Schritten, oder mit einer sehr kurzen Wirkungsdauer. Politik bedarf (nicht nur) in repräsentativen Systemen langwieriger Abstimmungen, Aushandlungen, Einbindungen. Bis es hier zu einem Entscheid kommt, sind die Ausgangsprobleme längst woanders. Oder Stimmungen haben sich gewandelt, und die formalen Regelungsmechanismen greifen nicht mehr (Stuttgart 21). Es hat oft den Eindruck, als würden die demokratietheoretisch erwünschten aufgeklärten Diskurse durch endlose Palaver ersetzt, die in der Regel unzureichend informiert und unterkomplex sind, aber strategische politische Entscheidungen blockieren oder verwässern.
- Fünftens, Politik ist zusehends auf Überlebensmodus gestellt, nicht mehr auf das Lösen struktureller Probleme. Das vielleicht dramatischste Beispiel ist die strukturelle Überschuldung vieler Nationalstaaten - keineswegs mehr nur der sogenannten unterentwickelten Länder, sondern jetzt auch des Kerns der OECD. Die USA sind national und international so sehr verschuldet, dass es ihre Handlungsfähigkeit daheim und jenseits der Grenzen immer mehr lähmt. Vor allem deshalb ist die bisherige Weltmacht nicht mehr in der Lage, ihre Rolle als Hegemon zu spielen. Die für jeden unvoreingenommenen Betrachter sichtbare Lösung, gerade unfreundlich von der chinesischen Regierung eingefordert, besteht darin, "im Rahmen der eigenen Möglichkeiten zu leben" - also massive Sparprogramme umzusetzen. Das ist aber in einer repräsentativen Demokratie nicht möglich - Wahlen würde verloren, und neue Regierungen würden dieselben harten Einschnitte aus denselben Gründen vermeiden: Politik steht still, und die Schuldenlasten steigen weiter. Derselbe Effekt ist in Europa (und nun auch in Israel) zu beobachten. Über von innen nicht mehr konsensfähige und von außen aufgenötigte Sparprogramme sind bereits die Regierungen in Irland und Portugal gestürzt, Spanien wird folgen, und auch Griechenland früher oder später. Die stabilitätspolitisch erforderlichen Sparprogramme würden den Kern der über Jahrzehnte aufgebaute Wolfahrtsstaatsmodelle verändern - das ist nicht mehrheits- und, damit, in einer Demokratie nicht politikfähig.
Betrachten wir diese fünf Ursachenbündel in der Gesamtschau, verwundert es nur noch wenig, dass demokratische Politik ein strukturelles Performanzproblem hat. Sie stößt an ihre Grenzen, und damit nähern wir uns in der Tat dem "Ende der Politik". Es ist auch nicht recht zu sehen, wie das - zumal im Rahmen des überkommenen Nationalstaats - zu verändern wäre.
Also müssen wir uns wohl oder übel auf die Frage einlassen, was denn dann zu tun ist. Wenn Politik die immer noch hohen, wenn auch abnehmenden Erwartungen der Wähler nicht mehr zufriedenstellend bedienen kann, müssen sich vielleicht die Erwartungen verändern, das heißt - zurückgenommen werden. Diese Frage sollte nicht mit einer neoliberalen Programmatik verwechselt werden, die in vielem der Politik (negativ) verhaftet bleibt und die Performanz von Märkten überschätzt. Vielleicht müssen sich die Politik, und auch die Wissenschaft von derselben, nach 2000 Jahren stärker um ganz andere Konzepte bemühen.
Patentlösungen gibt es nicht. Bessere Beratung schadet nie, stößt aber an die oben skizzierten Grenzen. Zivilgesellschaftliche Heilserwartungen werden wenn nur begrenzt greifen - auch dort gibt es keine überlegene Lösungskompetenz. Legitimationsprobleme treten hinzu. Zuständigkeitsverlagerungen auf andere Ebenen scheinen aussichtsreicher - etwa auf Städte (was faktisch schon geschieht - sie sind die Knotenpunkte der flows, nicht Staaten), oder auf die oft zu unrecht gescholtene oder verachtete EU.
Die Debatte über das "Ende der Politik" verträgt keinen Aufschub. Sie wird unbequem sein. Aber unvermeidlich.