Über Jahre hinweg hat die EU das Elend im griechischen Flüchtlingscamp Moria hingenommen. Nun liegt das Lager nach einem Brand in Trümmern - und mit ihm Europas Asylpolitik.
Niemand kann behaupten, nichts gewusst zu haben. Die Katastrophe von Moria, sie hat nicht erst mit dem Brand von Dienstag auf Mittwoch begonnen. Sie hat sich über Monate, über Jahre hinweg verschärft, jeden Tag ein Stück mehr. In dem Feuer hat sie nun nur ihren traurigen Höhepunkt gefunden.
Moria auf der griechischen Insel Lesbos war nicht irgendein Camp. Hier wollte die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik neu erfinden.
In sogenannten EU-Hotspots sollten Asylanträge binnen weniger Wochen geprüft werden. Anerkannte Flüchtlinge sollten in Europa verteilt, Menschen ohne Schutzanspruch in die Türkei zurückgeschickt werden. Das jedenfalls war das Versprechen des Deals, den die Europäer 2016 mit der Türkei ausgehandelt hatten. Nichts davon hat sich je erfüllt.
Die griechischen Inseln haben sich in Gefängnisse verwandelt
Statt die Gesuche von Asylbewerbern schnell zu bearbeiten, hielten die griechischen und europäischen Behörden die Schutzsuchenden über Monate, zum Teil über Jahre auf der Insel fest. Kaum ein Flüchtling wurde in die Türkei zurückgebracht, aber auch kaum jemand durfte weiterreisen nach Nordeuropa.
Das Ergebnis ist, dass sich Lesbos und andere griechische Inseln in Freiluftgefängnisse verwandelt haben. Im Camp Moria, das für 3000 Menschen ausgelegt ist, hausten zuletzt fast 13.000 Schutzsuchende.
Nichtregierungsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen oder Politiker wie Erik Marquardt haben immer wieder auf die unerträglichen Bedingungen in den Lagern hingewiesen. Experten, die zuvor in Ländern wie Irak, Somalia, Jemen gearbeitet hatten, berichteten, nirgends je so schlimme Bedingungen vorgefunden zu haben wie auf Lesbos. Griechenland und die EU haben all das einfach geschehen lassen.
Die Bundesregierung hat 2015 eine Million Migrantinnen und Migranten aufgenommen. Seither jedoch wollte sie mit dem Thema Flucht nichts mehr zu tun haben. Sie hat, wie fast alle anderen EU-Mitglieder, gehofft, das Problem an EU-Randstaaten wie Griechenland auslagern zu können. Es war den allermeisten Europäern egal, dass Flüchtlinge in Moria unter menschenunwürdigen Bedingungen hausten, dass sich dort Kinder aus Verzweiflung das Leben nahmen. Hauptsache, die Migranten machten sich nicht noch mal auf den Weg in Richtung Norden.
Griechenland aber ist mit der Unterbringung und Versorgung der Menschen überfordert. Wechselnde Regierungen, linke wie rechte, haben es über all die Jahre versäumt, ein auch nur ansatzweise funktionierendes Asylsystem aufzubauen. Es liegt der Verdacht nahe, dass Athen Moria nicht nur aus Ignoranz vernachlässigt hat. Sondern dass man das Elend bewusst in Kauf genommen hat, um mögliche Neuankömmlinge abzuschrecken. Und auch die EU hat nichts getan, um die Situation zu verbessern - dabei war Moria ihr Projekt.
Nun kommen gleich zwei Katastrophen zusammen: Unmittelbar vor dem Feuer ist in Moria Corona ausgebrochen. Mindestens 35 Kranke irren nun über die Insel, Tausende sind ohne Obdach. All das war absehbar. All das hätte verhindert werden können.
Europa muss sich endlich auf ein Asylsystem einigen
Es ist eigentlich klar, was die EU nun zu tun hat: Sie muss die Inseln evakuieren. Die Flüchtlinge müssen in Europa umgesiedelt werden, so, wie es Expertinnen und Experten seit Monaten fordern. Und dann müssen sich die Europäer, endlich, endlich, auf ein gemeinsames Asylsystem einigen, dass die Schutzsuchenden fair über den gesamten Kontinent verteilt.
Trotzdem ist fraglich, ob es dazu kommen wird. Nach der Verantwortung Deutschlands für die Menschen in Moria gefragt, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel nur: "Wenn sich in Europa herumspricht, dass alle Flüchtlinge, die jetzt zur Debatte stehen, von Deutschland aufgenommen werden, werden wir nie eine europäische Lösung bekommen." Es war ein Statement von erschreckender Kälte.
Die EU nimmt für sich in Anspruch, nicht nur eine wirtschaftliche und politische, sondern auch eine moralische Macht zu sein. Auf Lesbos hat sie jede moralische Autorität eingebüßt.