Dissident vor Gericht China macht der Meinungsfreiheit den Prozess
Peking - Am Ende hielten seine Freunde gelbe Bänder in die Höhe - als Symbol für einen, der nach langer Reise und vielen Fährnissen nach Hause zurückkommt. Doch jener Mann, für den sie demonstrierten, dürfte so bald nicht heimkehren.
Dem Regierungskritiker Liu Xiaobo wurde gestern vor dem Pekinger Mittelgericht Nr. 1 der Prozess gemacht. Die Staatsanwälte werfen ihm vor, "zur Untergrabung der Staatsgewalt" aufgerufen zu haben. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft.
Konkret halten ihm die Ankläger sechs im Internet veröffentliche Artikel sowie die Charta 08 vor, die Liu nicht nur unterschrieben, sondern wohl auch mitverfasst hat. Sie fordert ein politisches System, das "auf Menschenrechten und Demokratie" basiert. Eine "Demokratisierung der chinesischen Politik" dürfe "nicht länger aufgeschoben werden", heißt es.

Gleichzeitig kritisieren die Autoren heftig die Kommunistische Partei (KP): Das Herangehen der Regierung an "Modernisierung" habe sich als "katastrophal" erwiesen, weil es den Menschen die "Rechte raubte, ihre Würde zerstörte und die normalen zwischenmenschlichen Beziehungen korrumpierte". Rund zehntausend Menschen sollen das Dokument mittlerweile unterzeichnet haben.
Ausländer dürfen nicht in den Gerichtssaal
Acht Uhr morgens vor dem Gericht im Westen Pekings. Der Bürgersteig vor dem Eingang ist mit roten Gittern und blau-weißen Polizeibändern gesperrt. Es ist kalt, Dutzende von Uniformierten und Zivilpolizisten sind angerückt, die Journalisten fotografieren und filmen. Für sie wurde eine "Medienzone" eingerichtet, ein kleines Stück Bürgersteig rund 150 Meter vom Eingang entfernt. Ein freundlicher Beamter mit zwei Winkeln auf der Schulter prüft die Pressekarten und schreibt Namen in eine Kladde.
Um neun Uhr soll der Prozess gegen Liu beginnen, ausländische Berichterstatter und Diplomaten dürfen nicht hinein. "Kein Platz" hieß es zunächst, dann: "Ausländer sind in einem chinesischen Gericht nicht zugelassen."
14 Regierungen, darunter auch die Deutschlands und Österreichs, haben ihre Diplomaten vor das Gericht geschickt. Sie sollen der chinesischen Regierung zeigen, dass die Welt genau hinschaut, was mit Liu heute geschieht. Die USA und die EU haben bereits in den vergangenen Tagen gefordert, ihn "sofort" und "bedingungslos" freizulassen.
"Nackte politische Repression"
Denn was sich im Innern des Gebäudes abspielt, ist eine "Karikatur von Justiz", sagt Sophie Richardson von der internationalen Menschenrechtsorganisation "Human Rights Watch". "Das einzige Ziel des Prozesses ist es, nackte politische Repression in eine juristische Prozedur zu kleiden."
Tatsächlich steht mit Liu jemand vor Gericht, der nur das getan hat, was ihm sogar die chinesische Verfassung erlaubt - seine Meinung frei zu äußern. Doch die KP statuiert, wieder einmal, ein Exempel. Sie will alle freien Geister und Querdenker warnen, sich nicht zu weit vorzuwagen. Viele Kritiker gehen davon aus, dass das Urteil gegen Liu längst feststeht.
Agenten der Staatssicherheit hatten den heute 54-jährigen Schriftsteller, Philosophen und Demokratieverfechter im vorigen Dezember verschleppt und lange Zeit in einem fensterlosen Zimmer in einem Vorort von Peking festgehalten.
Liu ist Ehrenpräsident des unabhängigen Pen-Clubs in China. Er wurde 1955 im nordöstlichen Changchun geboren. Bekannt wurde er 1986 mit einer beißenden Kritik an der chinesischen Literatur nach der Kulturrevolution (1966 bis 1976).
In den achtziger Jahren arbeitete er an der amerikanischen Columbia-Universität und kehrte während der Studentenunruhen im Frühjahr 1989 nach Peking zurück. Nach dem blutigen Ende der Bewegung saß er insgesamt mehr als vier Jahre im Gefängnis, unter Hausarrest und in einem Arbeitslager.
Ehefrau von Polizisten festgehalten
Seine Frau, Liu Xia, durfte am Mittwochmorgen ebenfalls nicht in den Gerichtssaal, Polizisten hielten sie zu Hause fest. Andere Freunde, wie Ding Zilin, die Gründerin der "Mütter vom Tiananmen", wurden nicht auf die Straße gelassen. Dem prominenten Strafverteidiger Mo Shaoping wurde untersagt, Liu zu vertreten - weil auch er die Charta 08 unterzeichnet hat.
So streben kurz vor neun Uhr zwei seiner Kollegen in das Gebäude, einer trägt Akten in einer Pepsi-Cola-Tüte. Zu den Journalisten sagen sie nichts. In die Menge haben sich inzwischen einige Unterzeichner der Charta 08 gemischt, einer ruft "Lang lebe Liu Xiaobo!" Auch Bittsteller sind gekommen, sie halten Plakate hoch, protestieren laut, stecken den Journalisten Beschwerden zu.
Zhang Xianling, eine der Mütter vom Tiananmen, hat es bis zum Gebäude geschafft, sie will Liu Xiaobo unterstützen, wie sie sagt. Zwei Zivilbeamte führen die alte Dame nach einer Weile fort. Später taucht der international bekannte Künstler Ai Weiwei auf. Doch er sagt nur wenig und verschwindet nach ein paar Minuten in einer schwarzen Limousine.
Kurz nach zwölf Uhr erscheint ein Gerichtssprecher. Der Prozess werde an einem anderen Tag fortgesetzt, sagt er. Dann verschwindet er.
Der Angeklagte habe keine Schuld zugegeben, berichtet später Lius jüngerer Bruder Liu Hui, der in den Saal durfte. Die Anwälte rechnen mit einem Urteil am ersten Weihnachtstag.