Gewaltwelle in den USA "Der Rassenhass wird immer weiter wachsen"

Proteste in Seattle
Foto: Matt Mills Mcknight/ dpa
Mark Potok, 61, ist Forschungschef des Southern Poverty Law Centers (SPLC), einer privaten Watchdog-Gruppe, die US-Hassgruppen beobachtet, bloßstellt und bekämpft. Der Ex-Journalist gilt als kundigster Kenner der Radikalenszene. Er warnte früh vor Verbindungen. die das Umfeld des nunmehr designierten US-Präsidenten Donald Trump zu Rassisten, Antisemiten, Neonazis und anderen Extremisten pflegt.
SPIEGEL ONLINE: Mr. Potok, Sie vermelden eine landesweite Gewaltwelle gegen Minderheiten seit der US-Präsidentschaftswahl. Die Rede ist von mehr als 200 Übergriffen allein in den ersten Tagen. Hat sich das fortgesetzt?
Potok: Wir sind inzwischen bei 437 Übergriffen angelangt. Die Gewalt richtet sich gegen Schwarze, Einwanderer, Homosexuelle, Muslime, Frauen.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt Spekulationen, dass sich die Gewalttäter vom Wahlsieg Donald Trumps ermutigt fühlen. Haben Sie dafür Belege?
Potok: Viele, wenn auch nicht alle Täter berufen sich direkt auf Trump. Im Mississippi-Delta wurde eine afroamerikanische Kirche abgefackelt, auf die Ruine sprühte jemand: "Trump." Anderswo wurden Muslime oder Schwarze angebrüllt, sie sollten "in ihr Land" oder "nach Afrika zurück" gehen, "denn jetzt ist Donald Trump Präsident".
SPIEGEL ONLINE: Sie selbst verfolgen diese Szene seit Jahrzehnten. Haben Sie so etwas schon mal erlebt?
Potok: Nicht zu meinen Lebzeiten, und ich bin 61. Das ist schon sehr ungewöhnlich. Ende 2008, unmittelbar nach der Wahl Barack Obamas zum ersten schwarzen US-Präsidenten, erlebten wir einen großen, sehr ähnlichen Anstieg solcher Vorfälle. Wir zählten sie damals nicht genau, aber es waren Hunderte. Allerdings waren dabei in erster Linie Schwarze betroffen.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange dauerte diese erste Welle an?

Das verbrannte Innere der Hopewell M.B. Baptist Church in Greenville. Der Anschlag auf die Kirche war vermutlich rassistisch motiviert.
Foto: Rogelio V. Solis/ APPotok: Das Schlimmste dauerte etwa zwei Wochen, bevor die Kurve wieder abflachte. Ich schätze, dass das diesmal auch so sein wird. Wir hoffen es jedenfalls.
SPIEGEL ONLINE: Von der hohen Zahl abgesehen, was ist das Besondere an den jetzigen Übergriffen?
Potok: Furchtbar viele ereignen sich diesmal in Schulen und an Universitäten. Wir sehen zum Beispiel einen Anstieg der Mobbing-Fälle, von der Grundschule bis zur Highschool.
SPIEGEL ONLINE: Wie lässt sich das erklären?
Potok: Selbst die jüngsten Kinder bekommen ja mit, was ihre Eltern am Essenstisch sagen, und ahmen das dann in der Schule nach oder leben es aus, oft ohne zu wissen, was sie da eigentlich tun. Das ist allerdings nicht neu. Ich erinnere mich noch an einen Vorfall aus der Zeit nach Obamas Wahlsieg, als ein ganzer Schulbus voller Drittklässler skandierte: "Ermordet Obama!" Dabei wussten die Kinder kaum, was "ermordet" bedeutet.
SPIEGEL ONLINE: Und warum setzt sich das an den Universitäten fort, die eigentlich doch Stätten der Aufgeklärtheit sein sollten?
Potok: Auf den Campussen beobachten wir schon seit einiger Zeit eine wachsende White-Nationalist-Bewegung, die rassistische Ideologien und weiße Vorherrschaft propagiert. Hinzu kommt ein parallel wachsendes Ressentiment gegen politische Korrektheit.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie vor diesem Hintergrund überhaupt noch Hoffnung, dass sich die Sorgen und Ängste um Trump am Ende als übertrieben herausstellen?
Potok: Er ist genau der Mann, der er im Wahlkampf war - er hat uns genau gesagt, was er denkt und handelt jetzt in seinen ersten Handlungen als designierter Präsident auch danach. Allein die Benennung von Stephen Bannon zu seinem Chefstrategen: Damit hat er einen bekannten White Nationalist, einen ideologischen Rassisten, ins Weiße Haus eingeladen. Das ist schon ziemlich erstaunlich. Wir haben diese Woche eine Petition gestartet, mit der wir Trump auffordern, die Bestellung Bannons zurückzunehmen, und bis heute morgen hatten wir mehr als 345.000 Unterschriften. Das ist schon etwas.

Menschen versammeln sich vor der angegriffenen Hopewell M.B. Baptist Church in Greenville
Foto: ANGIE QUEZADA/ REUTERSSPIEGEL ONLINE: Trump scheint sich um die Proteste gegen seine Linie kaum zu scheren. Was bedeutet das für die nächsten Jahre?
Potok: Politisch wird es wahrscheinlich einen Angriff auf den Wohlfahrtsstaat geben, denn der hilft den Schwächsten - und einen Angriff auf das Sozialnetz im Allgemeinen, vielleicht sogar auf Medicare, die Krankenversorgung für Senioren. Gesellschaftlich fürchte ich, dass der Rassenhass in unserem Land nur immer weiter wachsen wird.
SPIEGEL ONLINE: Wie konnte das nur so weit kommen?
Potok: Das bahnte sich an. Der gegen Schwarze gerichtete Rassismus hat sich unter Obama nur verschlimmert. Es gibt hier eine Unterströmung von sehr wütenden Weißen, die sich zurückgelassen fühlen und dafür nicht nur die politischen Eliten verantwortlich machen, sondern auch die Unterklasse und die Minderheiten. Das ist nicht viel anders als in den Zwanzigerjahren in Europa.
SPIEGEL ONLINE: Aber das ist doch noch lange keine Entschuldigung für 60 Millionen Amerikaner, einen Mann zu wählen, der rassistische Gedanken propagiert.

Montgomery, Alabama: Zwei Jahrhunderte brutaler US-Geschichte
Potok: Das blenden viele aus. Sicher waren einige Wähler von Rassismus und Fanatismus und Hass auf Muslime motiviert. Aber die meisten sind einfach nur Menschen, die den Glauben an die Zukunft verloren haben und sich überzeugen ließen, dass die Ursache dafür bei den Minderheitengruppen zu finden ist. Ich habe lange Zeit die Gewerkschaftsbewegung verfolgt, und viele der Leute, die ich dabei kennengelernt habe, haben jetzt für Trump gestimmt. Das sind keine Rassisten. Die stehen ziemlich links, vergleichbar mit den deutschen Sozialdemokraten. Sie fühlten sich jedoch an der Nase herumgeführt und haben für den Wandel gestimmt. Hillary Clinton repräsentierte das bestehende Machtsystem.
SPIEGEL ONLINE: Hinterher weiß man's immer besser. Haben die Medien, die Soziologen, die Demoskopen und die meisten Politiker diese Zeichen übersehen und versagt?
Potok: Wir haben zumindest die Wahl Trumps nicht kommen sehen.
SPIEGEL ONLINE: Ist es nun zu spät?
Potok: Wir müssen uns organisieren. Organisieren, organisieren, organisieren. Wir müssen die Errungenschaften, Werte und Normen der demokratischen Gesellschaft verteidigen. Sonst werden wir enorm viel verlieren.
SPIEGEL ONLINE: Sorgen Sie sich darum?
Potok: Ich sorge mich, dass die nächsten vier Jahre eine ganz schreckliche Politik bringen könnten. Trump kann nun tun, was er will.
SPIEGEL ONLINE: Ihre Arbeit wird damit umso wichtiger.
Potok: Wir werden nie wieder Feierabend haben.