Ein Jahr nach der Wahl Viel Scharon - wenig Schalom

Im Wahlkampf hatte Ariel Scharon geworben: "Nur Scharon bringt den Frieden!" Ein Jahr nach seiner Wahl sieht die Bilanz des israelischen Ministerpräsidenten katastrophal aus. Mehr als tausend Menschen kamen bei Kämpfen zwischen Palästinensern und Israelis ums Leben. Und der "Bulldozer" besticht durch Diffamierungen und Drohungen.
Von Alexander Schwabe

Der Ausflug war in Wahrheit ein Feldzug. Am 28. September 2000 zieht der hochdekorierte ehemalige General Ariel Scharon auf den Tempelberg, vier Monate vor der Wahl zum Ministerpräsidenten. In seinem Gefolge: tausend Soldaten und Polizisten. Als er das nach Mekka und Medina für Muslime drittwichtigste Heiligtum betritt, bricht die geballte Wut über den bei den Palästinensern ohnehin meistgehassten israelischen Top-Politiker herein. Mehr noch: Die gesamte arabische Welt ist in Aufruhr, weil der "Bulldozer" die religiösen Gefühle der Muslime niederwalzt und ihren politischen Stolz mit Füßen tritt.

Der Besuch Scharons auf dem Tempelberg ist der Auftakt einer Entwicklung, die mit der Wahl des Likud-Chefs vor einem Jahr für die israelische Politik bestimmend geworden ist: Die Eskalation des Kampfes zwischen Israelis und Palästinensern, der endgültige Abschied vom Friedensprozess, der am 28. September 1995 in Oslo vereinbart worden war - exakt fünf Jahre vor Scharons provokativem Gang auf den Jerusalemer Tempelberg.

Der "Krieger" bürgt für Frieden

Als palästinensische Jugendliche tags darauf Steine vom Areal des Felsendoms und der al-Aksa-Moschee auf den tiefer gelegenen Platz an der Klagemauer der Juden werfen, lässt der damalige Ministerpräsident Ehud Barak den Tempelberg stürmen. Sieben Palästinenser werden auf dem heiligen Berg getötet.

Die Gewaltakte sind seither nicht abgerissen: Afula, Hadera, Jerusalem, Haifa - seit Beginn der Intifada II kam es zu 47 Selbstmordattentaten auf israelischem Gebiet. Das schwerste ereignete sich am 1. Juni 2001, als der Hamas-Fanatiker Said Hutari eine Bombe vor einer Discothek am Strand von Tel Aviv zündete und 20 israelischen Jugendlichen das Leben nahm.

Insgesamt sollen seit Beginn der so genannten al-Aksa-Intifada fast 1200 Menschen ums Leben gekommen sein, darunter etwa 250 Israelis. 18.000 Menschen wurden verletzt, überwiegend Palästinenser. Obwohl es sich in Israel gefährlicher lebt als vor der Regierungszeit Scharons, gelang es dem "Krieger" - so der Titel seiner Autobiografie - , der Bevölkerung zu suggerieren, er habe die höchste Kompetenz in Sachen Sicherheit.

Einige hundert Aktivisten "liquidiert"

Nach Angaben israelischer Behörden ist es während der Regierungszeit Scharons zu rund 10.000 bewaffneten Anschlägen gekommen (dazu zählt die Armee alle Schüsse auf israelische Einrichtungen). Rund hundert Terroranschläge sollen die Sicherheitskräfte des Landes verhindert haben. Nach israelischer Diktion wurden bisher 1500 Terroristen festgenommen und einige hundert Aktivisten liquidiert.

Scharon, der es nicht liebt, von Journalisten befragt zu werden, gab im Juni 2001, nach dem Anschlag auf die Tel Aviver Discothek, der "Washington Post" ein Interview. Darin machte er klar, was er von Politikern seines Landes hält, die eine rein politische Lösung in der Palästinenserfrage anstrebten: "Sie haben sich grundsätzlich geirrt." Eine Kombination aus politischen und militärischen Schritten sei der geeignete Weg der Koexistenz zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk.

Drohungen und Diffamierungen

Im Lauf des Jahres sollten Militäraktionen zum ausschließlichen Mittel der Politik werden. Als am 17. Oktober 2001 der ultrarechte Tourismusminister Rechawam Seewi von der Nationalen Union von Aktivisten der "Volksfront für die Befreiung Palästinas" in Jerusalem ermordet wurde, kannte Scharon kein Pardon mehr. Israelische Panzer rollten in palästinensische Städte ein, israelische Kampfflugzeuge und -hubschrauber bombardierten tagelang Einrichtungen der palästinensischen Autonomiebehörden im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Hunderte Menschen kamen ums Leben. Bei Gaza wurde der mit EU-Millionen aufgebaute Flughafen zerstört.

An Verhandlungen war nicht zu denken. Scharon diffamierte die palästinensische Führung, der er vorwarf, nicht genug gegen den Extremismus in den eigenen Reihen zu unternehmen und drohte ihr mit zunehmender Schärfe. Im Oktober bezeichnete Scharon Arafat als palästinensischen Bin Laden. Im Dezember unterrichtete der türkische Premier Bülent Ecevit Journalisten, Scharon habe mit ihm telefoniert und den Wunsch geäußert, Jassir Arafat "los zu werden". Im Januar sagte Scharon gegenüber der Zeitung "Maariv", es täte ihm leid, dass Arafat bei der Invasion im Libanon nicht liquidiert worden sei. Polizeiminister Usi Landau vom Likud-Block schlug vor, Arafat, der in Ramallah faktisch unter Hausarrest steht, nach Tunis zu verbannen, und Seewis Nachfolger im Tourismusministerium, Benni Elon, wäre es am liebsten, Israel würde die Palästinenser komplett aus dem Westjordanland vertreiben.

Tödliche Falle

Die Radikalisierung der Rechten in der Regierungskoalition führte zu Spannungen zwischen Außenminister Schimon Peres (Arbeitspartei) und dem Ministerpräsidenten, dem Peres vorwarf, seines "eigenes Nebenaußenministerium" zu schaffen. Die Sicht anderer hat den "Falken der Falken" jedoch nie sonderlich interessiert. Scharons ehemaliger Kampfgefährte, der heutige Friedensaktivist Uri Avnery, schilderte einmal ein für Scharon typisches Verhalten. Im Suez-Krieg von 1956 setzte er sich über den Befehl seiner Vorgesetzten hinweg. Als Kommandeur einer Fallschirmjägerbrigade ließ er den strategisch wichtigen Mitla-Pass nahe des Kanals besetzten und führte seine Soldaten in eine tödliche Falle. So zeigt er sich auch jetzt von der Kritik seines Koalitionspartners Peres ebenso unbeeindruckt wie zuletzt von der seitens der USA, die zwischenzeitlich Druck auf Scharon ausübten, als sie wegen des Afghanistan-Feldzuges an guten Beziehungen zur arabischen Welt interessiert waren, sich dann aber wieder hinter Scharon stellten.

Scharon schafft Fakten, solange andere noch reden. Als absehbar war, dass Ehud Barak Premierminister Benjamin Netanjahu bei der Wahl am 17. Mai 1999 ablösen würde, setzte Scharon, Minister für nationale Infrastruktur im Kabinett Netanjahu, alles daran, noch so viel palästinensischen Boden in Beschlag zu nehmen wie möglich. Die Siedler forderte er auf: "Besetzt Hügel um Hügel und gründet Siedlung nach Siedlung!"

Oder er sagt das eine, handelt jedoch ganz anders. Ende September redete Scharon davon, den Palästinensern einen eigenen Staat gewähren zu wollen, gleichzeitig verfolgt er seine expansionistische Siedlungspolitik weiter. Vergangenen November hat er Juden in aller Welt dazu aufgerufen, sich im Jahr 2002 in Israel niederzulassen. Mindestens eine Million Juden aus Argentinien, Frankreich und Südafrika - das wären rund 20 Prozent der Bevölkerung - würde er gerne im Land begrüßen.

Wirtschaftliche Notlage

Seit der Friedensprozess zum Erliegen gekommen ist, liegt auch die Wirtschaft am Boden. Nicht nur dass sich die Armut in den autonomen palästinensischen Gebieten im vergangenen Jahr verdoppelt hat. Rund 40 Prozent der Bevölkerung muss mit weniger als zwei Dollar pro Tag über die Runden kommen. 125.000 Pendler, die normalerweise in Israel arbeiten, sitzen in den abgeriegelten autonomen Gebieten fest.

In Israel jagt seit dem Amtsantritt von Scharon eine Negativzahl die nächste. Die Arbeitslosenzahl liegt bei annähernd zehn Prozent. Sie ist so hoch wie seit rund zehn Jahren nicht mehr. Die Wachstumsprognose für das erste Jahr Scharon musste dessen Finanzminister Silwan Schalom bereits vergangenen Sommer von 2,5 Prozent bis 3 Prozent auf 1 bis 1,5 Prozent korrigieren. Das Bruttoinlandsprodukt sank um 0,2 Prozent, nachdem es im Vorjahr noch um 6 Prozent gestiegen war. Seit der Gründung des Staates Israel gab es noch keinen so dramatischen Rückgang.

Besonders stark hat sich die Eskalation der Gewalt auf die Tourismus- und Baubranche ausgewirkt. Fast drei dutzend Hotels mussten seit dem Ausbruch der Intifada II schließen. Die anderen sind nur zu einem Drittel ausgelastet. Laut Tourismusministerium kam es zu einem Einnahmerückgang von zwei Milliarden Dollar. Scharon selbst spricht von einer wirtschaftlichen Notlage, ohne dass ihn dies offenbar sonderlich beunruhigt. Seine Leidenschaft gilt anderem. Die "Süddeutsche" hat vor über einem Jahr geschrieben: "Er ist süchtig nach dem politischen Leben in Israel, das nur Arafat und Krieg und Frieden und Gewalt kennt."

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