Ein Leben mit Arafat Frühstück in Tunis, Toben in Amman

Samir Sughair kennt "Abu Ammar", seit er ein kleines Kind war. Immer wieder begegnete er Arafat: im Libanon, in Tunesien und Jordanien, und zuletzt vor zwei Monaten in Ramallah. Zum Trauern sei es zu früh, sagt Samir - doch der Palästinenser blickt trotzdem zurück. Für ihn ist Arafat Vater, Großvater und Anführer in einem.
Von Yassin Musharbash

Ramallah - Er ist kein schöner Mann, aber er ist jung, schlank und agil und hat ein freundliches Lachen. Er trägt eine hellbraune Tropenuniform, dazu eine schwarz-weiße Kefije. An den todkranken Jassir Arafat von heute erinnert neben der Kopfbedeckung vor allem der seltsam fusselige Bart. In seinen Armen hält er, mit einem grünen Pyjama und blau-weißen Turnschuhen bekleidet, den elf Jahre alten Samir Sughair. Der kleine Junge lacht ebenfalls. Hat Arafat ihn gekitzelt?

Samir, heute 28 Jahre alt, kann sich nicht mehr genau erinnern. "Aber manchmal hat er mich an den Armen gefasst und durch die Luft gewirbelt", das weiß er noch. "Abu Ammar liebt kleine Kinder." Samir lässt keinen Zweifel daran, dass es immer ein großer Tag war, wenn Jassir Arafat zu Besuch kam.

Heute lebt Samir mit seinem Bruder und seiner Mutter in einem Sandsteinhaus ein paar hundert Meter von der "Mukata", dem Hauptquartier Arafats, entfernt in Ramallah. Die junge Schwägerin und Samirs Mutter, eine jung gebliebene Frau mit hennaroten Haaren, die gerne Anekdoten erzählt, füllen Zucchini und Auberginen mit einer Mischung aus Hackfleisch und Reis für das Abendessen. Ein paar Stunden dauert es noch, bis die Sonne untergeht und das Ramadan-Fasten beendet werden kann.

Samir wühlt sich durch die Erinnerungsfotos, die der Familie nach einer Razzia der israelischen Armee im Libanon noch geblieben sind. Ab und zu aktualisiert er nebenbei per Knopfdruck die Internet-Nachrichtenseite auf seinem Computer und wartet auf Neuigkeiten aus Paris, wo Arafat behandelt wird. Es ist eine Reise in eine aufregende Vergangenheit, in die die Gegenwart unablässig einbricht. Gelegentlich kommen Bruder oder Mutter in den Raum und tragen ein Stück Erinnerung bei.

Samirs Vater, Azmi Sughair starb 1982 im Libanon, als er eine Stellung der PLO gegen die einmarschierenden Israelis verteidigte. Für viele Palästinenser ist er noch heute eine Legende. Er ist der Grund für das besondere Verhältnis der Familie zum palästinensischen Präsidenten. "Sah er nicht gut aus", fragt Samirs Mutter, als sie einmal in das Zimmer kommt. Ja, keine Frage: Braunes, aufgekrempeltes Hemd, enge Anzughosen, damals topmodern, ein fescher Schnauzbart, ein sympathisches Gesicht. "Revolution bis zum Sieg" steht in Schönschrift über einer der Fotografien, die aus einem Album ausgerissen wurden.

Ein echtes palästinensisches Schicksal: Azmi Sughair, dessen Familie aus Hebron stammt, war ein Kampfgefährte Arafats und ein Freund Abu Masens, des früheren palästinensischen Premierministers, der bürgerlich Mahmud Abbas heißt und heute, angesichts der Erkrankung Arafats, wohl dessen Nachfolge als Präsident antreten wird. Azmis Familie folgte dem jungen Kämpfer damals in den Libanon. Dort entstanden die ersten Bilder, die Samir mit "Abu Ammar" zeigen.

Immer wieder kam Arafat zu Besuch

Aber auch nach Azmis Tod und der Flucht der PLO aus dem Libanon blieb die enge Beziehung von Samirs Familie zu Arafat bestehen: Immer wieder besucht der PLO-Vorsitzende die Familie, gibt ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, dazu zu gehören und ein lohnendes Opfer gebracht zu haben. Heute werfen nicht wenige Palästinenser Arafat vor, die Menschen allein mit Posten und Geld an sich zu binden. Das mag für die jüngste Vergangenheit stimmen, auch wenn Samir es bezweifelt. Doch früher, davon legen viele bereitwillig Zeugnis ab, die mit ihm in seinen Exiljahren verbunden waren, hat Arafat sich um seine Gefährten und Gefolgsleute oft rührend persönlich gekümmert.

Es verwundert kaum, wenn Palästinenser ihn als ihrer aller Vater beschreiben. Man kann die Verehrung, die Arafat hier trotz seiner Verfehlungen entgegen gebracht wird, nicht verstehen, wenn man die überall kursierenden Episoden seiner Warmherzigkeit nicht kennt. Auch Samirs Familie hat ihn so erlebt, aus nächster Nähe und viele Jahre lang.

"Abu Ammar ist ein treuer Mensch", sagt etwa Samir. "Er vergisst seine Freunde nicht." Für Samir, seine Mutter und seinen Bruder begann damals, nach dem PLO-Exodus aus dem Libanon, eine Odyssee, die nicht untypisch ist für palästinensische Familie jener Zeit, die in irgendeiner Form mit der Befreiungsbewegung und dem Kampf gegen Israel zu tun haben. Aber Arafat trat immer wieder in ihr Leben, aus eigenem Antrieb. Spielte mit den Kindern und machte Späße. Mehrmals suchte er die Familie in Jordanien auf.

Ein Foto zeigt Samir und seinen Bruder mit dem PLO-Vorsitzenden in Amman. Es ist eine der wenigen Aufnahmen von Arafat ohne das Palästinensertuch; an dessen Stelle trägt er eine Wollmütze sowjetischen Stils. Die beiden Jungen, rechts und links neben ihm postiert, tragen dafür die Kefije als Schal um den Hals geschlungen. Samir ist etwa 13 Jahre alt. Die Basis der PLO ist damals schon in Tunis. Auch dort trifft Samir regelmäßig mit Arafat zusammen, denn in den Sommern verbringt er je drei Monate im PLO-Quartier. "Abu Ammar", sagt er "wollte immer mit mir frühstücken und hat erst angefangen, wenn ich da war."

Samir äußert sich nicht zu den Zeiten des bewaffneten Kampfes gegen Israel, obwohl sein Vater und Arafat für ihn natürlich Idole und für die Palästinenser dieser Teil der Befreiungsbewegung ein integraler Bestandteil ihres nationalen Bewusstseins ist. Heute aber, das ist für Samir absolut klar, kann Gewalt keine Lösung für den palästinensisch-israelischen Konflikt sein.

Samir glaubt an das Oslo-Abkommen von 1993, das den Palästinensern im Austausch für die Anerkennung Israels die Teilautonomie in den besetzten Gebieten bescherte. Heute liegt dieses Abkommen in Trümmern, aber zunächst herrschten Mitte der neunziger Jahre goldene Zeiten in Palästina. Die Unabhängigkeit und der Frieden mit Israel schienen zum Greifen nahe, wirtschaftlich ging es bergauf, es gab wieder so etwas wie Stolz und Würde.

Auch diese Ära verfolgte Samir von einem Logenplatz aus: Auf einer Fotografie aus jener Zeit steht er wieder neben Arafat, diesmal in Jericho, der ersten autonomen Stadt der Westbank. Samir ist jetzt schlaksig und aufgeschossen, im Gesicht trägt er den Ansatz eines Schnurrbartes. Im Hintergrund ist einer der ersten Polizisten der neu errichteten Palästinensischen Autonomiebehörde zu erkennen.

Chatten für die palästinensische Sache

Heute, nach vier Jahren Intifada und blutigen palästinensisch-israelischen Auseinandersetzungen, deren Ende nicht absehbar ist, chattet Samir gelegentlich im Internet mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms. Er versucht, die palästinensische Sicht auf den Konflikt zu erklären und hofft weiter auf eine friedliche Lösung. "Mir ist es wichtig, mit denen, die anderer Meinung sind, zu reden", erklärt er. Einmal nahm Samir sogar ein paar israelische Siedler in seinem Auto mit. Als sie an einem Checkpoint angehalten wurden, fragte der israelische Soldat die Mitfahrer, ob sie keine Angst hätten, mit einem Araber mitzufahren.

Nein, sagten sie, und erzählten, dass viele, auch israelische Autos, an ihnen vorbeigefahren sind, obwohl ihr Auto kaputt war. Man kann verstehen, warum die Siedler eingestiegen sind: Samir lacht und redet viel, und seine Friedfertigkeit, seine Lust am Diskutieren stehen ihm ins Gesicht geschrieben. Radikale sehen anders aus. Samir ist überzeugt, dass auch Arafat den Frieden mit Israel ernsthaft suchte.

Auf der Terrasse hinter Samirs Haus hängt eine Wäscheleine, stehen Plastikeimer und Blumentöpfe herum. Ein typisch palästinensischer Innenhof. Materiell hat die Familie von Samir nicht unbedingt von ihrer Beziehung zu Arafat profitiert. Helles Sonnenlicht fällt auf den hellen Betonboden, man hat nicht das Gefühl, das es wirklich schon November ist, es ist warm. Samir spielt mit seinem Hund, einem Husky mit hellen Augen. Wehmütig berichtet Samir von einem Jugendcamp in Ostberlin, an dem er nach dem Fall der Mauer teilnahm. Dort lernte er eine junge Deutsche namens Claudia kennen. Ihre Adresse hat er damals leider verloren, nur einen Teddybären, den sie ihm geschenkt hat, besitzt er noch.

Natürlich ist Samir tief traurig über die Krankheit des Mannes, den er "Vater und Großvater" nennt. Er glaubt zwar, dass Abu Masen und Abu Ala, die beiden Männer der zweiten Reihe, die palästinensischen Angelegenheiten schon regeln werden. Er traut der palästinensischen Führung. Wirklich ersetzen könne Arafat freilich niemand, sagt er.

Arafat und die Butterwürfel

"Denn er ist wirklich ein erstaunlicher Mann, weißt du", erklärt Samir. "Er hat ein unnatürlich gutes Gedächtnis, er vergisst nichts und niemanden." Er ernährt sich gesund, sagt Samir, trinkt nicht einmal Kaffee, raucht auch nicht, aber ist zugleich liebenswürdig genug, es zu ertragen, wenn sich jemand in seiner Umgebung mal eine Zigarette ansteckt - obwohl das in seiner Umgebung aus Rücksicht eigentlich niemand tut. Und, ja, auch die oft kolportierte Vorliebe für Honig stimmt. Löffelweise isst er den aus dem Glas.

Außerdem, verrät Samir, liebt Jassir Arafat diese kleinen, in Würfel abgepackten Butterportionen. "Die begeistern ihn", lacht Samir. "Die findet er toll." Naiv ist seine Bewunderung für Abu Ammar trotzdem nicht, dafür kennt er ihn zu gut, nimmt ihn zu bewusst als Menschen und weniger als Symbol wahr. Arafat hat für Samir Normalmaß. Aber er hält ihn für einen besonderen Menschen.

Mittlerweile ist es Nachmittag geworden, kurz nach vier, die Sonne geht unter. Samir bringt jetzt Tee mit Pfefferminze. Über den Zustand Arafats gibt es noch immer keine Neuigkeiten, die Topmeldung auf seiner Internetseite ist gerade, dass die libanesische Hisbollah behauptet, erstmals eine Drohne über israelisches Gebiet gesteuert und wieder zurückgeholt zu haben. Diese Meldung interessiert Samir heute nicht.

Stattdessen holt er das letzte, das jüngste Bild hervor, das ihn und "Abu Ammar" zeigt. Diesmal trägt Samir einen Anzug. Es entstand erst vor zwei Monaten, als sein Bruder und dessen Braut sich den Segen des "Rais" für ihre Hochzeit holten. Aufgenommen wurde es in der "Mukata", wo Arafats Büro und Empfangszimmer ist und wo Arafat, der einzige Präsident der Welt ohne Staat, die letzten drei Jahre unter Hausarrest stand. Abu Ammar sieht auf der Aufnahme alt und klein aus, schon ein bisschen zerbrechlich, aber nicht unbedingt krank. Er lächelt und seine Augen sind wach.

Samir betrachtet das Bild lange. Er weiß, dass er Arafat vermutlich nie wieder sehen wird, und dass die gemeinsame Zeit, die er mit Abu Ammar verbracht hat, vorüber ist. Aber noch, sagt Samir, ist nicht die Zeit zu trauern.

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