Entscheidende Minuten 2011 Todesschuss im Schlafzimmer
Es sind die ersten Stunden des 2. Mai 2011 - eine warme Frühsommernacht. Um 0.58 Uhr schreibt der Programmierer und Café-Besitzer Sohaib Athar per Twitter: "Helikopter schweben um ein Uhr nachts über Abbottabad (das passiert selten)". Der 33-jährige Familienvater ist genervt von dem Krach, immer wieder geht er auf den Balkon, um zu sehen, was da los ist. Eine militärische Übung um diese Zeit? Oder sogar ein Angriff? Das kann nicht sein, doch nicht hier im abgelegenen Abbottabad.
Nichts ist zu sehen, die Hubschrauber fliegen ohne Licht. Athar ahnt nicht, dass nur etwa einen Kilometer von ihm entfernt der meistgesuchte Terrorist der Welt lebt. Und dass jetzt, in diesem Moment, die letzte Stunde von Osama Bin Laden geschlagen hat. Er twittert: "Geht weg, Hubschrauber - bevor ich meine riesige Fliegenklatsche hole."
Doch es werden noch mehr Hubschrauber, die jetzt über die Stadt fliegen - und plötzlich sind mehrere Explosionen zu hören, es fallen Schüsse. Athar, der aus Lahore nach Abbottabad gekommen ist, um zu entspannen und ein Leben in Abgeschiedenheit zu führen, spürt jetzt, dass etwas Gefährliches geschieht. Er schreibt: "Ich hoffe, das wird nicht übel."

Bin Ladens Ende: Die späte Rache der USA
Dann wird es wieder ruhig in der nordpakistanischen Stadt - und die Welt hat sich verändert. Knapp zehn Jahre nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in New York und Washington ist der Chef des Terrornetzwerks al-Qaida und Kopf hinter den Angriffen tot. Die USA haben sich gerächt und ihren Hauptfeind ausgeschaltet.
Ein Team von Navy Seals, einer US-Spezialeinheit, ist in der Nacht vom 1. auf den 2. Mai in einer streng geheimen Mission vom afghanischen Jalalabad nach Abbottabad geflogen. 23 Soldaten, ein Übersetzer und ein Hund sind im Einsatz. Kaum am Ziel angekommen, passiert ein Missgeschick: Einer der zwei Black Hawks - ausgerechnet ein Helikopter mit neu entwickelter Stealth-Technologie, die ihn leiser und für Radar schwerer erkennbar macht -, gerät in Schwierigkeiten. Der Pilot verliert die Kontrolle, die Maschine legt eine Bruchlandung im Vorhof von Bin Ladens Haus hin.
Der Einsatz läuft weiter. Die Soldaten aus dem zweiten Hubschrauber lassen sich auf dem benachbarten Acker absetzen. Mit Nachtsichtgeräten ausgestattet, stürmen sie ein unscheinbares, heruntergekommenes Haus auf einem ummauerten Grundstück. Sie sprengen verschlossene Türen und bahnen sich ihren Weg in den dritten Stock. Auf dem Weg dorthin erschießen sie einen Kurier Bin Ladens, dessen Bruder und Schwägerin sowie einen Sohn Bin Ladens.
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Im Schlafzimmer begegnen sie schließlich ihrem Ziel: Osama Bin Laden in einem beigen Shalwar Kameez, eine Gebetsmütze auf dem Kopf, unbewaffnet, vor ihm zwei seiner Ehefrauen. Ein US-Soldat stürzt auf die schreienden Frauen und schiebt sie beiseite. Zwei weitere Navy Seals drängen ins Zimmer. Einer von ihnen richtet den Laser seines M4-Sturmgewehrs auf Bin Ladens Brust. Er schießt. Während der Mann nach hinten fällt, feuert der Soldat erneut, diesmal in Bin Ladens Kopf.
Der entscheidende Moment, sagen hochrangige US-Diplomaten in Pakistans Hauptstadt Islamabad, habe ein paar Sekunden, höchstens eineinhalb Minuten gedauert. Und zu keinem Zeitpunkt habe man die Absicht gehabt, Bin Laden lebend zu fassen.
Es sind Sekunden mit gravierenden weltpolitischen Folgen: Die USA haben ihren Anti-Terror-Partner Pakistan erst mit Beginn der Aktion informiert. Jetzt stehen Pakistans Regierung und vor allem die Armee blamiert da. Die ganze Welt rätselt: Welche Helfer hatte Bin Laden? Oder war das Militär tatsächlich so sagenhaft ahnungslos, dass der Top-Terrorist unbehelligt mitten in Abbottabad, ganz in der Nähe der hochgesicherten Militärakademie und umgeben von Kasernen leben konnte?
Der Schlag gegen Bin Laden war ein Verstoß gegen Völkerrecht
Der pakistanischen Führung ist die ganze Angelegenheit peinlich, aber die Scham schlägt rasch um in Wut über die USA: Wie konnte Washington die staatliche Souveränität Pakistans so missachten und eine solche Operation auf pakistanischem Boden durchführen, ohne Islamabad vorher einzuweihen? Hinweise aus dem Weißen Haus in Washington, man habe befürchtet, Pakistan habe Bin Laden über den bevorstehenden Einsatz informieren können, heizen die Stimmung weiter an. Die Partnerschaft zwischen den USA und Pakistan steht nun in Frage, das Misstrauen auf beiden Seiten ist groß. Der Schaden, sagen Politiker in Islamabad, sei irreparabel.
Vor allem aber stellt sich die Frage, wie die USA und der Westen künftig ihren Anti-Terror-Kampf führen. Denn der Schlag gegen Bin Laden war ohne Frage ein Verstoß gegen Völkerrecht. Er war aber ebenso ohne Frage äußerst effektiv, er hat das Terrornetzwerk al-Qaida empfindlich getroffen. Darf der Westen sich über Recht hinwegsetzen, um Terroristen zu bekämpfen? Heiligt der Zweck also die Mittel? In Deutschland entbrannte zudem eine Debatte über die Frage, ob man sich über den Tod Bin Ladens freuen dürfe oder nicht.
In Abbottabad, einer grünen, zwischen Bergen gelegenen Stadt, will man derweil nicht wahrhaben, dass ausgerechnet Bin Laden hier gelebt haben soll. Weil die US-Soldaten den Leichnam des Terroristen im Indischen Ozean entsorgten und keine Fotos veröffentlichten, glauben die meisten Menschen bis heute, dass es sich in Wahrheit gar nicht um Bin Laden gehandelt habe.
Sohaib Athar, der Twitterer, erfährt wie die gesamte Weltöffentlichkeit erst acht Stunden nach den Ereignissen der Nacht, was da in seiner unmittelbaren Nachbarschaft passiert ist. Athar twittert: "Oh, ohh, jetzt bin ich der Typ, der den Angriff auf Osama live gebloggt hat, ohne es zu wissen."