Keine EU-Beitrittsgespräche für Albanien und Nordmazedonien Demütigung aus Brüssel

Die EU hatte Mazedonien und Albanien einst die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen fest versprochen - und hat dieses Versprechen gebrochen. Die Politiker der Länder stehen blamiert da. Was jetzt kommt, ist nichts Gutes.
Nordmazedoniens Premier Zoran Zaev: Rücktritt und Neuwahlen angekündigt

Nordmazedoniens Premier Zoran Zaev: Rücktritt und Neuwahlen angekündigt

Foto: Boris Grdanoski/AP/dpa

Integration gegen Reformen - mit diesem Versprechen, bekundet 2003 in der "Agenda von Thessaloniki", hat die Europäische Union den sechs Ländern der Westbalkan-Region einen EU-Beitritt fest zugesagt. Inoffiziell steht dieses Versprechen schon seit Längerem infrage, denn in der Union hat sich Erweiterungsmüdigkeit breitgemacht.

Nun aber hat die EU erstmals einen offenen Wortbruch begangen: Wegen eines Vetos aus Frankreich können Albanien und Mazedonien die bereits zugesagten EU-Beitrittsverhandlungen nicht beginnen.

Die Entscheidung des EU-Gipfels vom vergangenen Freitag löste in der gesamten Westbalkan-Region Fassungslosigkeit und Verbitterung aus. Die politischen Folgen der Absage könnten schwerwiegend sein, zahlreiche Führungspolitiker aus EU-Ländern sprachen bereits von einem "historischen Fehler".

Besonders bitter ist der Nichtbeginn der Beitrittsverhandlungen für Mazedonien. Der Beschluss von Brüssel löste im Land eine politische Krise aus - der sozialdemokratische Regierungschef Zoran Zaev sprach von einer "großen historischen Ungerechtigkeit" und kündigte vorgezogene Neuwahlen für April kommenden Jahres sowie seinen Rücktritt für Januar an.

Erst im Januar hatte Mazedonien nach einem fast drei Jahrzehnte andauernden Namensstreit mit dem Nachbarn Griechenland seinen Staatsnamen in "Nordmazedonien" geändert. Das war nicht nur ein einmaliger Vorgang in der Weltgeschichte, sondern zudem für den Großteil der Mazedonier äußerst demütigend. Dennoch schloss die Regierung unter Premier Zaev im sogenannten Prespa-Abkommen diesen schmerzhaften historischen Kompromiss - auch, um den Weg für die Beitrittsverhandlungen mit der EU frei zu machen.

Tabubrüche könnten zum Normalfall werden

Darüber hinaus ist Nordmazedonien zurzeit das einzige Land auf dem Westbalkan, das ernsthaft grundlegende demokratische und rechtsstaatliche Reformen anstrebt. Der Prozess ist holprig und von vielen Rückschlägen begleitet, seit einigen Monaten erschüttert eine schwere Korruptionsaffäre das Land. Dennoch ist Mazedonien seit der erfolgreichen "bunten Revolution" von 2016 das Positivbeispiel in der Region.

Wenn allerdings nach der vorgezogenen Wahl im kommenden Frühjahr die Nationalisten an die Macht zurückkehren, wird der Weg des Landes unberechenbar. Fest steht: Der 2018 nach Ungarn geflüchtete Ex-Premier Nikola Gruevski hatte während seiner Herrschaft keine Skrupel, das Land notfalls in einen Bürgerkrieg zu stürzen, um an der Macht zu bleiben.

Im Falle Albaniens ist die Absage von EU-Beitrittsverhandlungen schon eher nachvollziehbar. Die Justiz- und Rechtsstaatsreformen im Land stecken fest, der seit 2013 amtierende, nominell sozialistische Premier Edi Rama steht im Verdacht, seine Partei auch mithilfe des organisierten Verbrechens, insbesondere der Drogenmafia, an der Macht zu halten. Rama selbst, im Westen wegen seiner Auftritte in Sneakers bekannt und als Künstler bewundert, pflegt innenpolitisch einen zunehmend autoritären Stil.

Eine Aufsplittung der Beitrittsverhandlungen - mit einer Verschiebung für Albanien und einem Beginn für Nordmazedonien - wäre eine Möglichkeit für die EU gewesen, ihre Glaubwürdigkeit in der Region zu wahren. Allerdings stemmte sich Frankreich auch gegen diesen Weg.

Damit hat die EU sich eine Option abgeschnitten, befriedend und impulsgebend auf den Westbalkan einzuwirken. Politische und rechtsstaatliche Tabubrüche könnten nun immer öfter zum Normalfall werden:

  • Eine Neuaufnahme des Dialogs zwischen Serbien und dem Kosovo unter dem Schirm der EU ist wohl endgültig vom Tisch, allenfalls könnte er unter Vermittlung der beiden neuen US-Sondergesandten Palmer und Grenell stattfinden; wahrscheinlicher ist, dass die beiden Länder ihren diplomatischen Krieg noch intensivieren.
  • Das "Großalbanien"-Szenario - eine langfristige Vereinigung von Albanien und Kosovo - könnte sich als reale langfristige politische Perspektive etablieren.
  • In Bosnien-Herzegowina werden die politischen Vertreter der Kroaten und besonders der Serben um Milorad Dodik den bosnischen Staat noch stärker als bisher infrage stellen und an separatistischen Szenarien arbeiten.
  • Die Entscheidung ist ein schwerer Schlag für die zivilgesellschaftlichen Akteure der Region und ein bestärkendes Signal an Herrscher wie den montenegrinischen Staatschef Milo Djukanovic, Korruption und Vetternwirtschaft noch offener zu pflegen.

Entgegen dem verbreiteten politischen Geraune bedeutet die Entscheidung des EU-Gipfels vorerst jedoch nicht, dass Russland, China oder die Türkei in der Westbalkan-Region in die Lücke springen werden, die Brüssel hinterlässt. Denn vor allem Russland und die Türkei haben bei weitem nicht die finanziellen Mittel, die Europa derzeit in die Region investiert. Zweifellos aber werden Russland, China und die Türkei die Inkonsequenz der EU auszunutzen wissen. Der Westbalkan wird damit künftig zu einer noch unübersichtlicheren geopolitischen Grauzone.

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