Steueraffäre EU-Dokumente belasten Juncker und Dijsselbloem

Neue Enthüllungen über Steuervorteile für Großkonzerne erschüttern die Glaubwürdigkeit von EU-Kommissionpräsident Juncker und Eurogruppen-Chef Dijsselbloem. Der Druck auf die beiden wächst.
Dijsselbloem und Juncker (Archivbild 2012): "Luxemburg ist ein Rechtsstaat"

Dijsselbloem und Juncker (Archivbild 2012): "Luxemburg ist ein Rechtsstaat"

Foto: GEORGES GOBET/ AFP

Es klang alles so vielversprechend, als die EU-Finanzminister die "Gruppe Verhaltenskodex" ("Code of Conduct Group", kurz CoC) ins Leben riefen. Alle Regeln, die zu einem schädlichen Steuerwettbewerb führen, sollten abgeschafft werden - darauf verpflichteten sich die EU-Mitgliedstaaten mit der Gründung des Gremiums im März 1998.

Doch spätestens seit diesem Wochenende ist klar: Die meisten Mitgliedstaaten unternahmen nichts, um das Anlocken von Großkonzernen durch Steuervorteile zu stoppen. Einige befeuerten den Wettbewerb sogar massiv - zum Schaden aller Steuerzahler, die sich, anders als internationale Unternehmen, nicht aussuchen können, in welchem Land sie ihr Einkommen versteuern.

Und die EU-Kommission, eigentlich Hüterin der Europäischen Verträge, sah weitgehend tatenlos zu. Das belegen Dokumente der Gruppe Verhaltenskodex und der Arbeitsgruppe Steuern des Europäischen Rats, die der SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE einsehen konnten - insgesamt mehrere hundert Seiten.

Damit wächst der politische Druck in der Affäre um Steuervorteile für Großkonzerne, die mit dem "Luxemburg Leaks"-Skandal im November 2014 begann. Damals wurde bekannt, wie Luxemburg mit sogenannten Steuervorbescheiden fragwürdige Sparmodelle von Großkonzernen durchwinkte, um die Firmen ins Land zu locken.

Im Zentrum der Affäre steht EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Die "Luxemburg Leaks"-Dokumente stammen von 2002 bis 2010, Juncker war in dieser Zeit durchgehend Premierminister und zugleich neun Jahre lang Finanzminister des Großherzogtums. Mehr politische Verantwortung geht eigentlich nicht.

Auch ein weiterer Spitzenmann der EU-Institutionen gerät durch die neuen Enthüllungen ins Zwielicht: der niederländische Finanzminister Jeroen Dijsselbloem. Aus den CoC-Dokumenten geht hervor, dass sein Land auch dann noch alle Vorstöße zur Bekämpfung des Steuerwettbewerbs abblockte, als er im Januar 2013 zum Chef der Euro-Gruppe aufgestiegen war. Neben den Niederlanden tauchen auch Belgien und Luxemburg immer wieder als Bremser beim Bemühen um mehr Steuergerechtigkeit auf.

"Juncker und Dijsselbloem tragen persönlich Verantwortung"

"Mit Luxemburg und den Niederlanden muss man klar über diese Dinge reden", sagt der CDU-Europapolitiker Burkhard Balz. "Der Druck muss aufrechterhalten werden." Andere Steuerpolitiker üben scharfe Kritik an Juncker und Dijsselbloem selbst. Die Recherchen des SPIEGEL zeigten, dass die beiden "persönlich Verantwortung für Steuerdumping in der Europäischen Union tragen", sagt der Grünen-Politiker Sven Giegold.

Ähnlich äußert sich Michael Theurer (FDP): "Die Frage der politischen Verantwortung von Juncker und Dijsselbloem ist noch nicht geklärt." Bei den Verhandlungen zur Flüchtlingskrise und zum Griechenland-Schuldendrama sei es problematisch, "wenn maßgebliche Akteure europäische Solidarität einfordern, in Fragen des Steuerrechts aber Verhalten geduldet oder gar forciert haben, das nicht gemeinschaftsdienlich ist."

Balz, Giegold und Theurer sind Mitglieder des "Taxe"-Sonderausschusses, den das Europaparlament zur Aufarbeitung des "Luxemburg Leaks"-Skandal eingesetzt hat. Doch die Arbeit des Gremiums geriet zur Farce. Erst nach monatelangem Gezerre gestattete die EU-Kommission den Abgeordneten Zugang zu den Protokollen der Gruppe Verhaltenskodex, allerdings nur unter starken Einschränkungen. Zudem haben die EU-Staaten nicht etwa alle ihre Protokolle seit März 1998, dem Gründungsmonat der CoC, zur Verfügung gestellt - sondern nur jene ab September 2009. Und selbst die haben 13 der 28 Mitgliedstaaten komplett geschwärzt eingereicht.

Jahrelang geschah nichts

Ungeschwärzte Dokumente, die der SPIEGEL und SPIEGEL ONLINE einsehen konnten, erlauben einen tiefen Einblick in das Scheitern der EU im Kampf um mehr Steuergerechtigkeit. Ein Beispiel: Die Mitgliedstaaten sind schon seit 1977 verpflichtet, Informationen über Steuervorbescheide auszutauschen. Doch noch 32 Jahre später, im September 2009, war das laut den Mitschriften der CoC-Sitzungen nicht der Fall. Im März 2010 definierte die EU-Kommission dann in einer Richtlinie genauer, welche Steuerpraktiken schädlich sind und welche Informationen die Mitgliedsländer austauschen müssen. Zweieinhalb Jahre später prüfte sie die Umsetzung - und stellte fest: Die EU-Staaten haben die Richtlinie schlicht ignoriert.

Doch es geschah zunächst wieder nichts. Erst Anfang Oktober 2015 beschlossen die EU-Finanzminister, Informationen über Steuervorbescheide auszutauschen. Allerdings soll das erst ab 2017 gelten - und nur für Vorbescheide ab dem 31. Dezember 2016. Was vorher war, ist vergeben und vergessen.

Giegold und auch der Linken-Politiker Fabio de Masi erwägen derweil eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof, um an die CoC-Protokolle von 1998 bis 2010 zu kommen. "In diesem Zeitraum hat die Praxis der Steuervorbescheide ihre volle Blüte erreicht", sagt de Masi. "In Europa tut sich nur dann etwas, wenn die schmutzige Wäsche gelüftet wird. Und die gibt es."


Zusammengefasst: Dokumente belegen, wie Luxemburg unter Ex-Premier Juncker Konzernen half, weniger Steuern zu zahlen. Neben dem EU-Kommissionspräsidenten gerät in der Affäre auch der niederländische Euro-Gruppen-Chef Dijsselbloem unter Druck. Europa-Abgeordnete fordern Aufklärung.


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