EU-Gipfel Das Schachern um die Brexit-Beute

Kanzlerin Merkel, Frankreichs Präsident Macron
Foto: Jonathan Ernst/ REUTERSWenn Theresa May heute zu später Stunde gebeten wird, den Sitzungssaal im Brüsseler Ratsgebäude zu verlassen, geht der EU-Gipfel in seine heiße Phase. Die EU-Mitglieder haben dann schon über die gemeinsame Verteidigung gesprochen und die Frage, ob die Sanktionen gegen Russland verlängert werden sollen. Auch der neue französische Präsident Emmanuel Macron wird dann seinen ersten großen Auftritt bei einem EU-Treffen hinter sich haben. Das Signal, das von diesem Multi-Themen-Gipfel ausgehen soll, ist klar: Fast auf dem Tag genau ein Jahr nach dem Schock des Brexit-Referendums wollen die Europäer Einigkeit und Stärke demonstrieren.
Dummerweise droht diese Harmonie ausgerechnet dann zu bröckeln, wenn May aus dem Raum geht. Dann machen sich die verbleibenden Staats- und Regierungschefs daran, die erste Beute aus dem Brexit zu verteilen. Es geht darum, wohin jene EU-Agenturen umziehen, die derzeit ihren Sitz noch in London haben: die Europäische Arzneimittelbehörde EMA und die Europäische Bankenaufsicht EBA.
Die Fachminister hatten sich nicht auf die Kriterien und das Verfahren verständigen können, um die neue Heimat der Behörden zu bestimmen. Deshalb müssen jetzt die Staats- und Regierungschefs ran - und sich um die lästigen Details kümmern. Immerhin, neben dem Prestige geht es um hochqualifizierte Jobs und viel Geld - beispielsweise haben beide Agenturen London jährlich fast 40.000 zusätzliche Hotelübernachtungen beschert.
Vor allem aber ist der Poker zu später Stunde auch ein Test, ob die oft beschworene Einheit der EU-27 angesichts des Brexit hält, oder ob sie beim ersten kleineren Verteilungskampf schon wieder Geschichte ist. Für die Briten wäre ein heftiger Zank um die Agenturen eine Vorlage für die anstehenden Verhandlungen: Es könnte ihre Bereitschaft erhöhen, auch an anderer Stelle zu versuchen, die 27 auseinanderzudividieren.
17 Länder wollen die Pharmaaufsicht
Worum geht es? Weil Agenturen der EU in einem Mitgliedsland der Union beheimatet sein müssen, werden EMA und EBA umziehen. Die größere Beute ist die Pharmaagentur mit knapp 900 Mitarbeitern. 17 EU-Länder haben sich bisher darum beworben, unter anderem Österreich, Spanien und Frankreich. Um die kleinere Bankenaufsicht (189 Mitarbeiter) buhlen derzeit immerhin fünf Länder.
Auch Deutschland ist dabei, die Bundesregierung "kämpft für beide Agenturen" twittert Kanzleramtschef Peter Altmaier markig. Chancen hat am ehesten Frankfurt als künftige Heimat für die Bankenaufsicht. Immerhin ist die Stadt bereits Standort der Europäischen Zentralbank EZB.
Dennoch ist ein deutscher Erfolg alles andere als sicher. Das liegt an den Kriterien und dem Verfahren, auf das sich die Außenminister und Staatsekretäre nicht abschließend verständigen konnten. In einer ersten Runde soll jedes Land sechs Punkte vergeben können: drei für die besten Standort, zwei für den zweitbesten, und so weiter. Wird eine zweite Runde nötig, hat jedes Land nur noch einen Punkt.
Es geht also ein bisschen zu wie beim Eurovision Song Contest. Genau deshalb fürchten die Deutschen ähnlich miserable Resultate.
Das große Gefeilsche beginnt
Auch die Italiener sind unzufrieden mit dieser Mischung aus vermeintlich objektiven Kriterien und politisch motivierter Punktevergabe. Einige Länder drängen daher darauf, dass die EU-Kommission eine Art Shortlist mit denjenigen Bewerbern erstellt, die die Bedingungen besonders gut erfüllen. Bereits im Oktober soll der Zuschlag erteilt werden.
Unvergessen ist, wie der italienische Premier Silvio Berlusconi einst Helsinki als Sitz der EU-Agentur für Lebensmittelsicherheit aus dem Rennen schlug: Die Finnen wüssten ja nicht einmal, was Prosciutto sei, soll der Italiener gelästert haben. Folgerichtig kam die Einrichtung am Ende nach Parma.
So wird auch jetzt wieder nach guter Brüsseler Manier gefeilscht.
Vor allem die osteuropäischen Länder rechnen sich Chancen aus. Ihre Diplomaten verweisen auf EU-Beschlüsse, wonach neue Agenturen in den neuen Ländern angesiedelt werden sollen. Die Replik der "alten" EU-Länder ließ nicht lange auf sich warten: Es gehe nicht um neue Agenturen, sondern den Umzug bestehender Einrichtungen. In Wahrheit denken viele EU-Länder gar nicht daran, den Osteuropäern die Agenturen zuzuschanzen, weil die sich etwa bei der Verteilung der Flüchtlinge in der Vergangenheit wenig solidarisch gezeigt hatten. Auch das zeigt, warum der relativ zweitrangige Streit über die Agenturen jederzeit zum echten Problem werden kann.
Der Flughafen ist da, Schulplätze eher nicht
Die Bundesregierung war in der Agenturfrage lange nicht sprechfähig. Im Außenministerium etwa findet man, dass die Welt nicht untergeht, wenn Deutschland am Ende eben nicht das Rennen macht. Zumal ja bereits die EZB und die Europäische Luftsicherheitsagentur hier beheimatet sind. Die Idee, ostdeutsche Städte wie beispielsweise Rostock ins Rennen zu schicken, scheiterte an den strengen Kriterien, einer guten Fluganbindung etwa und der nötigen Zahl an Hotelbetten. Frankfurt erfüllt diese Bedingungen spielend, hat allerdings andere Probleme: Für die Kinder der EBA-Mitarbeiter muss es genügend Platz an europäischen oder internationalen Schulen geben. Da haben andere Standorte offenbar bessere Karten.
Charmant finden manche auch die Idee, die EMA nach Straßburg zu versetzen, dafür den (zweiten) Sitz des Europäischen Parlaments dort zu schließen und so als erwünschten Nebeneffekt den absurden Wanderzirkus zwischen Brüssel und Straßburg zu beenden. Dummerweise dürfte dieser Ringtausch für den neuen französischen Präsidenten keinesfalls infrage kommen.
Einigkeit besteht immerhin schon mal in einem Punkt: Die Kosten für den Umzug der Behörden sollen die Briten tragen.