Umstrittene EU-Personalie Juncker droht in Selmayr-Debatte mit Rücktritt

Jean-Claude Juncker
Foto: ARIS OIKONOMOU/ AFPEs gab genügend Themen, über die sich die Staats- und Regierungschefs unterhalten konnten, als sie am Donnerstagmittag in Brüssel zum Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) zusammenkamen. Die Reaktion auf das Giftattentat in Großbritannien etwa oder die Furcht vor einem Handelskrieg mit Donald Trump standen auf der Agenda. Schließlich dient der Treff dazu, dass sich die konservativen Parteiführer, darunter Angela Merkel, vor dem eigentlichen Gipfel schon mal untereinander abstimmen.
Allein, Jean-Claude Juncker, auch er EVP-Mitglied, hatte anderes im Sinn. Der Kommissionspräsident wollte lieber über die umstrittene Berufung des deutschen Juristen Martin Selmayr zum Generalsekretär der EU-Kommission sprechen, einer Behörde mit rund 32.000 Mitarbeitern.
Selmayrs Blitzkarriere erzürnt die Gemüter in Brüssel mittlerweile seit über einem Monat. Der Aufstieg des hemdsärmeligen Juristen, den außerhalb Brüssels kaum jemand kennt, zeichnet sich unter anderem durch den bizarren Umstand aus, dass er binnen weniger Minuten gleich zweimal befördert werden musste, um auf die gewünschte Position zu gelangen. Der Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments verlangt Aufklärung. Die Antworten der Kommission auf einen umfangreichen Fragenkatalog werden für Freitagmittag erwartet.

Martin Selmayr
Foto: Virginia Mayo/ dpaNeu ist, dass die Personalie nun höchste EU-Zirkel erreicht. Die Berufung Selmayrs sei seine Angelegenheit, schimpfte Juncker vor den Staats- und Regierungschefs, er könne selbst bestimmen, wen er zum Generalsekretär mache. "Selmayr wird nicht gehen", sagte Juncker. "Wenn er geht, gehe ich auch." Danach verließ er den Raum. Merkel und Co. blieben einigermaßen baff zurück. Ein beispielloser Eklat.
Mehrere Teilnehmer des Treffens bestätigten den Vorgang dem SPIEGEL, eine Kommissionssprecherin schrieb auf Anfrage, man kommentiere interne Sitzungen nicht.
Sicher, man muss bei Juncker nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, auch mit Rücktritt hat er immer mal wieder gedroht, wenn ihm der Sinn danach stand. Passiert ist nie was. Sein Ausbruch zeigt allerdings, wie dünnhäutig die Kommissionsspitze mittlerweile auf Kritik in der Angelegenheit reagiert.
Zerreißprobe für die EVP
Die Kontroverse lässt an Schärfe nicht nach, im Gegenteil: Vor allem für die EVP, zu der Juncker und Selmayr gehören, wird die Berufung immer mehr zur Zerreißprobe. Die anderen Parteien im Europaparlament haben sich ohnehin längst mit Empörung gegen Selmayrs Blitzberufung gewandt. Konkreter Anlass von Junckers Einlassungen scheinen nun Äußerungen von EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani sein. Tajani hatte am Dienstagabend bei einer Sitzung des EVP-Präsidiums darauf hingewiesen, wie kritisch breite Teile des Parlaments die Selmayr-Berufung sehen. Teilnehmer verstanden die Einlassungen des Parlamentspräsidenten durchaus als Aufforderung an Juncker, in der Sache endlich für Ordnung zu sorgen.
Juncker war bei der Präsidiumssitzung nicht anwesend, es darf aber als sicher gelten, dass er über Tajanis Äußerungen informiert wurde. Beim Vorgipfel selbst soll sich auch EVP-Fraktionschef Manfred Weber, der auch stellvertretender CSU-Chef ist, kritisch geäußert haben.
Die Unionsabgeordneten im Europaparlament kündigen Juncker in der Sache mehrheitlich ebenfalls die Treue. Hoch her ging es beispielsweise beim Verband der Automobilindustrie (VDA) am Dienstagabend. Die deutschen Autolobbyisten hatten in ein Steakhouse im Europaviertel geladen, der neue Verbandschef wollte Parlamentarier bei einem "offenen und kritischen Dialog" kennenlernen, wie es in der Einladung hieß.
"Ohne Selmayr ist Juncker hilflos"
Auch EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger war dabei, ein CDU-Mann. Später am Abend kam die Rede, logisch, auf die Selmayr-Saga. Oettinger, der als Haushaltskommissar auch fürs Personal zuständig ist, betonte, das Auswahlverfahren sei ordnungsgemäß gelaufen. Davon wollten die Parlamentarier, deutsche Unionsleute, allerdings nichts wissen.
Oettinger beschwor sie, nicht auf Selmayrs Rücktritt hinzuarbeiten. "Das könnt ihr nicht machen," sagte der Kommissar, "ohne Selmayr ist Juncker hilflos." Diesen Befund teilte die Runde allerdings. "Dann schmeißt Juncker hin", lautete die allgemeine Meinung. Mehrere Teilnehmer bestätigen dem SPIEGEL die Äußerungen. Oettinger wollte sie wieder bestätigen noch dementieren. In Brüssel gab es immer wieder Berichte, Selmayr sei der eigentliche Manager der EU-Kommission und nicht Behördenchef Juncker.
Immerhin EU-Parlamentarier Elmar Brok forderte beim VDA-Mahl mehr landsmannschaftliche Solidarität mit Selmayr. Brok, der Selmayrs Karriere stets gefördert hat, raunzte seine Kollegen an: "Wie kann man nur gegen einen Deutschen sein." Gut möglich, dass er bald bessere Argumente für seinen Schützling braucht.