Streit um EU-Chefposten Herrschaft im Hinterzimmer

Kanzlerin Merkel: Die Wähler Europas werden ignoriert
Foto: FRANCOIS LENOIR/ REUTERSAngela Merkel gilt als "Kohls Mädchen", als Ziehtochter des Einheits-Kanzlers. Doch wenn es um Europa geht, orientiert sie sich nicht an Helmut Kohl, sie geht weiter zurück, zu Konrad Adenauer.
Der CDU-Mann übersetzte einst Machiavelli ins Deutsche und formulierte den Satz: Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern? Merkel hat im Jahr 2014 diesen Satz verfeinert. Er lautet nun: Was kümmert mich, dass ich gestern noch mehr Demokratie in Europa versprach?
Wer die Kanzlerin am Dienstagabend beim EU-Gipfel in Brüssel sah, erlebte eine Politikerin, die an eine Demokratie mit Kindersicherung glaubt: Europas Bürger dürfen bei der Europawahl mit Kandidaten und Wahlzetteln ein wenig spielen. Aber wenn es ernst wird, müssen die Eltern - sprich Europas Regierungschefs - erst mal draufgucken.
Ihren eigenen christdemokratischen Spitzenkandidaten für den Kommissions-Chefposten, Jean-Claude Juncker, behandelte Merkel zwei Tage nach dessen klarem Wahlsieg wie einen flüchtigen Bekannten. Klar könne der EVP-Mann den Job, rang sie sich ab, aber viele andere ja auch. Natürlich habe sie nicht vergessen, dass sie die Kandidatur des Luxemburgers bis Sonntag unterstützt habe.
Doch Verbindlichkeiten sollten daraus bitteschön nicht entstehen. Es gelte die europäischen Verträge zu respektieren, dozierte Merkel. Sie überlasse dem Rat der Regierungschefs, nicht dem EU-Parlament, die Personalentscheidung. Und die müssten Geschlechterbalance, Parteiproporz und überhaupt die Harmonie unter 28 Staaten berücksichtigen.
Damit mag die Kanzlerin rein technisch sogar recht haben. Sie hat im Wahlkampf betont, ein "Automatismus" für Junckers Bestellung als Kommissionspräsident existiere nicht. Natürlich handelt es sich beim Europäischen Rat auch nicht um ein Hinterzimmer-Kabinett, sondern ein Treffen gewählter Volksvertreter. In einem juristischen Oberseminar könnte Merkel vielleicht punkten.
Wer interessiert sich schon für mehr Demokratie?
Nur ist Demokratie kein juristisches Oberseminar. Europas Bürger haben nicht die Fußnoten der europäischen Verträge studiert - sie haben gesehen, wie Juncker, SPD-Mann Martin Schulz und andere auf Plakaten und in TV-Duellen als "europäische Spitzenkandidaten" auftraten. Sie haben verfolgt, wie Merkel Juncker bei einer EVP-Krönungsmesse mit auf den Schild hob. Und wie der Luxemburger sich am Wahlabend als "nächster Präsident der Europäischen Kommission" vorstellen ließ, auch mit Duldung Merkels. Schließlich galt als Maxime dieses Europawahlkampfs: Wer gewinnt, wird EU-Kommissionspräsident.
Dies alles nun so leichtfertig abzutun, ist nicht einmal Wähler-Verhöhnung. Um jemanden zu verhöhnen, muss man ihn irgendwie ernst nehmen. Es ist Wähler-Ignorierung. Merkel und andere EU-Regierungschefs denken: Mit den Europäern können wir es ja machen. Nicht einmal jeder Zweite ist schließlich zur EU-Wahl gegangen, also lautet das Kalkül der Regierungschefs offenbar: Wer interessiert sich schon für mehr Demokratie in Europa?
Die Antwort muss lauten: Wir Bürger interessieren uns dafür. Und es ist nicht zu spät, die Kanzlerin daran zu erinnern, dass sie störrische Blockierer wie Großbritanniens Premier David Cameron - der aus Furcht vor Europaskeptikern daheim "Spitzenkandidaten" partout ablehnt - noch überzeugen kann. Gelingt Merkel das, wäre es: gelebte Demokratie.