Konferenz zur Zukunft Europas Große Versprechen, kleines Karo

Guy Verhofstadt und Antonio Tajani
Foto: François Walschaerts/ AFPDas Versprechen ist verheißungsvoll, die Ziele sind hochtrabend. In einer großen Konferenz zur Zukunft Europas sollen die EU-Institutionen und die Bürger darüber entscheiden, wie es weitergehen soll mit der Gemeinschaft. So haben es die Staats- und Regierungschefs versprochen, nachdem sie im Juli mit ihrer Wahl von Ursula von der Leyen als Kommissionschefin die Spitzenkandidaten des Parlaments rüde zur Seite geschubst hatten.
Nun liegt erstmals ein Konzept vor, das beschreibt, wie sich das Europaparlament die Bürgerbeteiligung genauer vorstellt. Es geht um große Fragen, vom Klimaschutz bis zur Migration, von Europas Rolle auf der Weltbühne bis zu Fragen sozialer Ungleichheit. "Wir brauchen einen tiefgreifenden Reformprozess", sagt der Grünenabgeordnete Daniel Freund, der das Parlamentspapier miterarbeitet hat. "Vertragsänderungen dürfen dabei kein Tabu sein."
In von Universitäten ausgewählten Gruppen sollen 200 bis 300 Bürger überall in Europa diskutieren, so der Plan. Geht es nach dem Grünen Freund, könnten die betreffenden Diskutanten sogar per Zufall ausgelost werden. Klar sein muss nur, dass jedes EU-Land in jeder Gruppe vertreten ist.
Wer bei der Konferenz sonst das Sagen hat, ist umstritten. Laut Parlamentskonzept soll ein Plenum als Diskussionsort im Zentrum stehen, in dem Europaparlamentarier die große Mehrheit stellen. Andere Pläne, etwa ein deutsch-französisches Papier, das vor wenigen Wochen bekannt wurde, sehen dagegen keine starke Rolle für das Parlament vor.
Neuer Anlauf für eine große Reform
Vorbild für die Veranstaltung ist der Europäische Konvent, der 2003 einen Entwurf für einen Europäischen Verfassungsvertrag erarbeitet hat. Dieser wurde dann allerdings eingestampft, nachdem ihn die Bürger in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 in Referenden abgelehnt hatten.
Nun also ein weiterer Anlauf für eine große EU-Reform. Die Begeisterung dafür ist in Brüssel sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Staats- und Regierungschefs beschäftigten sich beim EU-Gipfel vergangene Woche nur am Rande mit dem Thema. Und wie ernst Ursula von der Leyen, die neue Kommissionschefin, die Sache nimmt, muss sich noch zeigen.
Im Europaparlament aber laufen intensive Vorarbeiten. Am Dienstagabend stellte sich die zuständige Arbeitsgruppe hinter das Konzeptpapier, am Donnerstag sollen die Fraktionschefs ihren Segen geben, im Januar dann das gesamte Parlament. Dann will man in die Verhandlungen mit Rat und Kommission ziehen.
Alle Diskussionen und Sitzungen sollen live im Netz übertragen werden
Die Zeit drängt, denn nach dem Willen der Parlamentarier könnten die Konferenzen, bereits am Jahrestag der Schuman-Erklärung, also am 9. Mai 2020 starten. Für Transparenz, so das Versprechen, soll gesorgt sein: Alle Diskussionen und Sitzungen sollen live im Netz übertragen werden.
Klingt technisch? Soweit ja. Doch während um die Details der Papiere noch gerungen wird, gibt es hinter den Kulissen ein zähes Ringen um die Frage, wer die Konferenz leiten darf. Der Machtkampf ist nicht ohne Grund, immerhin: Dass an der Spitze ein Parlamentarier stehen soll, das hat Kommissionschefin von der Leyen immerhin schon mal in Aussicht gestellt. Das ist auch sinnvoll bei einer Konferenz, die eine Art Trostpreis dafür ist, dass sie und kein Parlamentarier an der Kommissionsspitze zum Zuge kam.
Lange Zeit galt Guy Verhofstadt, der ehemalige Fraktionschef der Liberalen, als gesetzt für den Job. Verhofstadt ist ein Veteran europäischer Konvente und Kommissionen. Nachdem Macrons "La République en marche"-Bewegung sich nach der Europawahl der Alde-Fraktion angeschlossen und umgehend für einen Namenswechsel ("Renew Europe") und auch sonst für jede Menge Ärger gesorgt hatte, war er als Fraktionschef nicht mehr angetreten. Zudem war der ehemalige belgische Ministerpräsident, der sich derzeit als Chef der Brexit-Steuerungsgruppe im Parlament verdingt, beim großen Postenpoker leer ausgegangen - was also läge, zumindest in der Brüsseler Logik, näher, als ihm die Konferenz anzutragen?
Viele versprechen sich einen Schub für Europas Demokratie
Doch nun haben auch andere ein Auge auf den Prestigeposten geworfen. Antonio Tajani soll dazugehören. Den ehemaligen Parlamentspräsidenten von der EVP zeichnet schon immer ein feines Gespür für Gelegenheiten aus, sich unter den 751 Parlamentariern hervorzutun. Dass der enge Kumpel von Italiens skandalumwittertem Ex-Premier Silvio Berlusconi am Ende tatsächlich bei einer Konferenz das Rennen macht, von der sich viele einen Schub für Europas Demokratie versprechen, ist allerdings schwer vorstellbar.

Kommissionschefin Ursula von der Leyen und Parlamentspräsident David-Maria Sassoli
Foto: Vincent Kessler / REUTERSUm die Kontrahenten erst mal in Schach zu halten, zeigt auch der gegenwärtige Parlamentspräsident David-Maria Sassoli von den Sozialdemokraten Interesse. Sassoli wäre die logische Wahl, wenn die Konferenz von den Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission gemeinsam geleitet würde. Auch das ist allerdings eher unwahrscheinlich, denn wenn man den Posten als Konferenzchef ernst nimmt, dürfte er nicht als Nebenjob zu erledigen sein.
Wenn die Eitelkeiten einmal geklärt sind und es losgeht, muss die Konferenz, quasi als Minimalanforderung, vor der nächsten Europawahl zwei Probleme klären, darüber sind sich alle einig.
Da ist zunächst die Frage, wie es weitergeht mit dem Spitzenkandidatensystem. Dieses besagt, dass nur der Kommissionschef werden darf, der bei der Europawahl auch als Spitzenkandidat seiner Parteienfamilie angetreten ist. Eigentlich. Denn nach der vergangenen Europawahl sorgte Macron höchstpersönlich dafür, dass der Wahlsieger, Manfred Weber von der EVP, am Ende nicht zum Zuge kam.
Auch Macrons Idee von transnationalen Listen dürfte auf der Agenda stehen. Frankreichs Präsident argumentiert, dass Europawahlen nur dann wahre Europawahlen sind, wenn die Kandidaten überall von Athen bis Zagreb gewählt werden können und nicht nur in ihren Heimatländern.
Gut möglich, dass die transnationalen Listen bis zum geplanten Ende der Konferenz im Sommer 2022 ihren Durchbruch feiern, mutmaßt die "Financial Times" wohl nicht ganz zu Unrecht - dann hat Frankreich die turnusgemäß wechselnde EU-Ratspräsidentschaft inne.