EU-Parlamentspräsident Schulz "Europa ist ein Einwanderungskontinent"

Fast 400 Flüchtlinge sind binnen zehn Tagen im Mittelmeer ertrunken. EU-Parlamentspräsident Schulz verlangt jetzt eine radikale Neuausrichtung der Asylpolitik. Einwanderer müssten legal einreisen können. Auch Deutschland trage große Verantwortung. Stattdessen betreibe Innenminister Friedrich "billige Polemik".
Syrisches Flüchtlingskind in Beirut vor dem Abflug nach Deutschland: Reform der Einwanderungsgesetze ist notwendig

Syrisches Flüchtlingskind in Beirut vor dem Abflug nach Deutschland: Reform der Einwanderungsgesetze ist notwendig

Foto: Wael Hamzeh/ dpa

Berlin - Nach den Flüchtlingsdramen von Lampedusa verlangt der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz (SPD), ein radikales Umdenken in der europäischen Politik. "Europa muss endlich anerkennen, dass es ein Einwanderungskontinent ist", sagte er SPIEGEL ONLINE. Europa müsse gemeinsam handeln und dürfe Länder wie Italien und Malta nicht alleinlassen.

Schulz sieht auch Deutschland als reichstes und politisch stärkstes Land der EU in der Pflicht: Die Bundesrepublik müsse mehr Flüchtlinge aufnehmen. Er kritisierte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) harsch. "Ich finde die Reaktion des Innenministers angesichts der Lage am Mittelmeer überraschend. Es hat keinen Sinn, sich auf billige Polemik und Zahlenspiele zurückzuziehen." Die Realität sei: "Wir sind ein Einwanderungsland und ein Einwanderungskontinent. Ob es uns passt oder nicht."

Friedrich hatte trotz der jüngsten Flüchtlingsdramen an den Küsten der Mittelmeerinsel Lampedusa zuletzt mehrfach betont, dass er keinen Grund für eine Änderung der Einwanderungspolitik in Europa sehe. Am 3. Oktober geriet ein Boot vor Lampedusa in Seenot, mindestens 360 Menschen starben. Am vergangenen Freitag ertranken erneut mehr als 30 Flüchtlinge im Mittelmeer.

Um solche Dramen künftig zu verhindern, brauche es einen Kurswechsel der Asylpolitik, sagte der EU-Parlamentspräsident. Konkret fordert Schulz die Möglichkeit zur legalen Einreise von Einwanderern. Er verlangt außerdem die Einführung eines Verteilungsschlüssels, der die Aufnahme von Migranten in den EU-Mitgliedstaaten regelt. Nur mit modernen Gesetzen könnten Menschen davon abgehalten werden, "sich unmoralischen Schleppern auszuliefern, die aus ihrer Hoffnungslosigkeit ein Geschäft machen".

Lesen Sie hier das ganze Interview:

SPIEGEL ONLINE: Vor einer Woche sind mindestens 360 Flüchtlinge vor Lampedusa gestorben, am Freitag sind wieder 30 Menschen ertrunken. Wie kann Europa verhindern, dass weitere Menschen im Mittelmeer sterben?

Schulz: Wir brauchen zunächst einmal eine unmittelbare humanitäre Hilfe für die Betroffenen. Weder Italien noch Malta kann man alleinlassen, das muss eine europäische Aufgabe sein. Wenn Sie 10.000 Flüchtlinge auf einer Insel wie Lampedusa haben, die 6000 Einwohner zählt, ist das für die Insel eine Katastrophe. Wenn Sie 10.000 Menschen unter 507 Millionen Europäern in 28 Mitgliedstaaten verteilen, ist das machbar.

SPIEGEL ONLINE: Doch wie kann man verhindern, dass die Menschen überhaupt die gefährliche Reise antreten?

Schulz: Europa muss endlich anerkennen, dass es ein Einwanderungskontinent ist. Deshalb brauchen wir ein legales Einwanderungssystem. Alle großen Einwanderungsregionen dieser Erde, so wie die USA, Australien oder Kanada, haben moderne Gesetze, die legale Zuwanderung regeln. Die illegale Einwanderung ist verbunden mit Hoffnungslosigkeit, die legale Einwanderung mit Hoffnung. Das würde die Menschen davon abhalten, sich unmoralischen Schleppern auszuliefern, die aus ihrer Hoffnungslosigkeit ein Geschäft machen.

SPIEGEL ONLINE: Manche befürchten, dass Europa dann von Einwanderern überflutet wird.

Schulz: Bei solchen Aussagen bin ich grundsätzlich skeptisch. Ich sehe nur die Fluten, die die Menschen im Mittelmeer verschlingen. Ich teile die Auffassung, dass Europa nicht alle Probleme der Welt lösen kann, wir werden nicht jeden aufnehmen können. Aber wir brauchen dringend eine Reform unserer Einwanderungsgesetze. Dazu gehört auch ein Schlüssel, mit dessen Hilfe die Einwanderer unter den Mitgliedstaaten verteilt werden. Diejenigen, die von Einwandererfluten sprechen, sollten sich einmal anschauen, wie viele Hunderttausende Flüchtlinge zum Beispiel die Türkei, Jordanien und andere Mittelmeerländer aufnehmen.

SPIEGEL ONLINE: Welche Verantwortung hat Deutschland?

Schulz: Wir sind das reichste und ein politisch starkes Land in der EU, unsere Regierung muss ihren Führungsanspruch wahrnehmen. In Deutschland wird noch häufig die Debatte geführt, dass wir kein Einwanderungsland sind und die Einwanderer hier nichts verloren haben. In einigen europäischen Ländern spielen bestimmte Parteien auch mit den Ängsten der Leute. Daran sollte sich eine deutsche Regierung nicht beteiligen.

SPIEGEL ONLINE: Innenminister Friedrich blockt sämtliche Forderungen, hierzulande mehr Flüchtlinge aufzunehmen, ab. Er verweist unter anderem auf Statistiken, wonach Deutschland bereits jetzt viermal so viele Flüchtlinge aufnimmt wie Italien.

Schulz: Ich finde die Reaktion des Innenministers angesichts der Lage am Mittelmeer überraschend. Wir sind zunächst einmal dazu aufgerufen, das schlimme Schicksal der Menschen zu lindern. Es hat keinen Sinn, sich auf billige Polemik und Zahlenspiele zurückzuziehen. Dahinter steckt die Weigerung, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Die Realität ist: Wir sind ein Einwanderungsland und ein Einwanderungskontinent. Ob es uns passt oder nicht.

SPIEGEL ONLINE: Sollte Deutschland Italien helfen?

Schulz: Ja. Wir können es uns leisten - finanziell und was die Aufnahme von zusätzlichen Flüchtlingen angeht. Angesichts der dramatischen Bilder aus Lampedusa fände ich es normal. Das sollte jeder Mensch mit Gefühl tun, der die Bilder von jungen Menschen und Kindern auf den Booten gesehen hat, deren Eltern vor ihren Augen ertrunken sind. Es ist eine humanitäre Verpflichtung des reichsten Kontinents der Erde, diese Menschen aufzunehmen. Wir müssen zwar über Fluchtursachen reden, aber angesichts des Elends dieser Menschen kann man sich nicht allein darauf zurückziehen und nur über Ursachen sprechen, um so direkte Hilfe zu verweigern.

SPIEGEL ONLINE: Viele deutsche Kommunen beklagen schon jetzt die Lasten durch die steigende Armutseinwanderung. Muss dieses Phänomen nicht mitberücksichtigt werden in der Debatte?

Schulz: Ich habe Verständnis für jeden Bürgermeister, der sich wegen der finanziellen Folgen verstärkter Einwanderung sorgt. Ich war selbst elf Jahre lang Bürgermeister einer Grenzstadt und weiß daher, welche Probleme das für eine Kommune bedeuten kann. Deshalb ist mein Vorschlag: Wenn wir zusätzliche Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen, dann muss die Bundesregierung den Städten und Gemeinden die Finanzmittel zur Verfügung stellen, die sie dafür brauchen. Bei Bürgerkriegsflüchtlingen geht es zunächst einmal nur um einen temporären Schutz hierzulande. Sobald sich die Lage in den Herkunftsländern gebessert hat, gibt es auch die Notwendigkeit, dass sie wieder zurückgehen.

SPIEGEL ONLINE: Die SPD befindet sich derzeit im Sondierungsgesprächen mit der Union. Wie müsste die Asylpolitik in einem möglichen schwarz-roten Bündnis aussehen?

Schulz: Heute findet die zweite Sondierungsrunde statt. Morgen sondiert Schwarz-Grün. Alles Weitere wird man dann sehen.

SPIEGEL ONLINE: Die EU hat im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis gewonnen. Wird der Kontinent mit Blick auf Lampedusa diesem Preis gerade gerecht?

Karte: Flüchtlingsströme nach Europa

Karte: Flüchtlingsströme nach Europa

Foto: SPIEGEL ONLINE

Schulz: Die Europäische Union wurde ausgezeichnet dafür, dass ihre Institutionen soziale Gerechtigkeit und Frieden geschaffen haben. Dafür war der Preis verdient. Für Einwanderung und die aktuellen Flüchtlingsdramen tragen zunächst einmal die nationalen Regierungen Verantwortung. Richtig ist aber: Respekt vor der Würde des Menschen als Grundauftrag der EU würde uns gebieten, nicht über Zahlen zu reden, sondern den Menschen zu helfen.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren