EU-Türkei-Gipfel Nehmt das Geld, behaltet die Flüchtlinge

Flüchtlinge (an der griechisch-mazedonischen Grenze): EU hofft auf Hilfe aus Ankara
Foto: YANNIS BEHRAKIS/ REUTERSDas Timing war bemerkenswert: Am Freitag versuchten die Unterhändler von EU und Türkei, sich in letzter Minute auf eine Abschlusserklärung für den Flüchtlings-Sondergipfel am Sonntag zu einigen. Zugleich wurde aus Istanbul die Verhaftung zweier Journalisten bekannt. Sie hatten im Januar 2014 berichtet, dass der türkische Geheimdienst MIT Waffen an den "Islamischen Staat" geliefert habe, garniert mit Fotos eines durchsuchten Konvois.
Der Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung "Cumhuriyet" und ein Korrespondent müssen sich nun wegen Spionage und Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung verantworten. Angezeigt hatte die beiden: Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich.
Dass es um Grundrechte wie die Meinungsfreiheit in der Türkei miserabel bestellt ist, hatte die EU-Kommission der türkischen Regierung erst Anfang November offiziell bescheinigt. Jetzt machen die Staats- und Regierungschefs aller 28 EU-Staaten derselben türkischen Regierung in Brüssel ihre Aufwartung. Dabei kommt Erdogan nicht einmal selbst, sondern schickt seinen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu.
Die Türkei sehen Europas Regierungschefs als Schlüsselland, wenn nicht gar als letzte Hoffnung im Kampf gegen die Flüchtlingskrise. Allein in Deutschland sind nach Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in diesem Jahr mehr als 900.000 Asylsuchende angekommen. Die allermeisten kamen über die Türkei und die Westbalkanroute.
Das macht Ankara zum begehrten Gesprächspartner, auf dessen Wunsch der EU-Sondergipfel zustande kam. Auf dem Treffen soll der seit Wochen besprochene EU-Türkei-Aktionsplan verabschiedet werden, eingebettet in eine Erklärung, wie aus Kreisen der Bundesregierung verlautete.
Streit um drei Milliarden Euro
Doch um den Wortlaut wird bis zum letzten Moment gerungen; die Verhandlungen werden sich dem Vernehmen nach bis in den Samstag ziehen. Bis zum Beginn des Gipfels am Sonntag soll unbedingt ein fertig ausgehandelter Text auf dem Tisch liegen, damit die 28 Staats- und Regierungschefs mit Davutoglu nur noch um Details ringen müssen.
Heftig umstritten sind die drei Milliarden Euro, die Ankara von der EU verlangt. Mit dem Geld soll die Lage der Flüchtlinge aus Syrien verbessert werden, die sich derzeit in der Türkei aufhalten. Nach türkischen Angaben sind es inzwischen 2,5 Millionen. Sie sollen bessere Unterkünfte, Schulen und Zugang zum türkischen Arbeitsmarkt erhalten. Das Kalkül der EU: Je besser die Bedingungen in der Türkei sind, desto weniger Flüchtlinge ziehen nach Westeuropa.
Doch ausgerechnet aus Berlin kommt Widerstand. 500 Millionen der drei Milliarden sollten laut den bisherigen Planungen aus dem EU-Budget kommen, der Rest von den Mitgliedstaaten. Deutschland aber fordert nun, dass alles aus dem EU-Haushalt kommt, genauer: aus einem Topf, der eigentlich für Not- und Härtefälle bei Landwirtschaft und Strukturhilfe gedacht ist. Von ihm profitieren vor allem die neuen EU-Mitglieder in Osteuropa - also genau jene Staaten, die sich der Aufnahme von Flüchtlingen bisher konsequent verweigern.
Entscheidung über Visa-Erleichterungen für 2016 erwartet
Kommt eine Einigung über die drei Milliarden zustande, soll das Geld nach Angaben der Bundesregierung nicht auf einen Schlag ausgezahlt werden, sondern Schritt für Schritt, gebunden an konkrete Projekte. Vorgesehen sei eine Review-Klausel, sagte ein deutscher Regierungsvertreter. Die Auszahlung von Geldern sei auch abhängig von der Entwicklung der Flüchtlingszahlen.
Im Gegenzug soll Ankara seine Grenzen besser sichern, härter gegen Schleuser vorgehen und sich zur Wiederaufnahme abgeschobener Flüchtlinge verpflichten. Dafür verspricht die EU Ankara nicht nur Geld, sondern auch Visa-Erleichterungen für türkische Staatsbürger und eine Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen.
Die Visa-Erleichterungen sind an Anforderungen geknüpft, die die Türkei zuvor erfüllen muss. Dazu soll die EU-Kommission im Frühjahr einen Bericht vorlegen. Sollte er positiv ausfallen und es im Sommer auch eine Einigung über die Rücknahme von Flüchtlingen durch die Türkei geben, könnte im Herbst 2016 über die Visa-Erleichterungen entschieden werden, hieß es in Berlin.
"Gipfel kein Ort für Gespräche über Menschenrechte"
Schneller soll es dagegen bei den Beitrittsverhandlungen gehen. Das Verhandlungskapitel 17 zur Wirtschafts- und Währungspolitik könne noch im Dezember eröffnet werden, sagte ein deutscher Beamter. Weitere Kapitel könnten 2016 folgen.
Doch auch hier gibt es Schwierigkeiten, insbesondere mit Zypern. Das EU-Mitglied hatte die Beitrittsgespräche mit der Türkei schon in den vergangenen Jahren blockiert, weil Ankara im 1974 besetzten Nordteil der Insel weiter Truppen stationiert hat. Hinzu kam zuletzt auch ein Streit um die Förderung von Öl- und Gasvorkommen vor der Küste Zyperns.
An der miserablen Menschenrechtslage in der Türkei aber werden die Verhandlungen wohl kaum scheitern. Das weiß auch die türkische Regierung. Sie hatte sich zuletzt nicht einmal mehr besonders bemüht, den Vorwurf zu zerstreuen, den "Islamischen Staat" im Kampf gegen Syriens Diktator Baschar al-Assad aufgerüstet zu haben. "Welchen Unterschied macht es denn, ob der Konvoi Waffen transportierte oder nicht?", fragte Erdogan vor einigen Tagen in einer Rede.
Gespräche über Menschenrechte seien zwar "Teil des Dialogs" mit Ankara, sagte ein deutscher Regierungsvertreter. "Aber ein Gipfel mit 28 Ländern ist nicht der Ort dafür."
Zusammengefasst: Die EU hält einen Sondergipfel mit Beteiligung der Türkei ab, um die Flüchtlingszahlen so schnell wie möglich zu senken. Eine Einigung ist den EU-Staaten so wichtig, dass alles andere dahinter zurücksteht - darunter auch die Frage nach der Menschenrechtslage in der Türkei.