Chaos in Mali Der Westen ignoriert den neuen Tuareg-Staat

Das Militär putschte, jetzt droht die Spaltung des Landes: Die Tuareg-Rebellen haben im Norden Malis ihren eigenen Staat ausgerufen. Doch das Ausland lehnt eine internationale Anerkennung von "Azawad" einmütig ab. Der Westen fürchtet, dort könnten Islamisten die Macht übernehmen.
Chaos in Mali: Der Westen ignoriert den neuen Tuareg-Staat

Chaos in Mali: Der Westen ignoriert den neuen Tuareg-Staat

Foto: ISSOUF SANOGO/ AFP

Addis Abeba/Bamako/Berlin - Die Afrikanische und Europäische Union sind sich einig: Sie wollen den am Freitag von den Tuareg-Rebellen ausgerufenen eigenen Staat Azawad - "das Land der Nomaden" - in Mali nicht anerkennen. Nach der Einnahme mehrerer strategisch wichtiger Städte hatten die Tuareg am Freitag die Unabhängigkeit des Nordens vom Rest des Landes proklamiert.

Der neue Staat in Westafrika werde demokratisch sein, teilte die Rebellen-Gruppe MNLA mit. Im Internet erklärte sie das Gebiet für befreit und verkündete "unwiderruflich die Unabhängigkeit des Staates Azawad von heute an, Freitag, den 6. April 2012". Der neue Staat solle im Einklang mit den Grundsätzen der Vereinten Nationen stehen, hieß es. Alle Grenzen mit den Nachbarländern würden anerkannt.

Die einseitige Unabhängigkeitserklärung stieß international prompt auf Ablehnung. Frankreichs Verteidigungsminister Gérard Longuet sagte, die Erklärung habe keine Bedeutung, solange sie nicht von den afrikanischen Staaten anerkannt werde. Ein Sprecher des Pariser Außenministeriums nannte die Erklärung "null und nichtig".

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Tuareg-Rebellen in Mali: Kampf um Unabhängigkeit

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Etwas umständlicher, aber ähnlich bestimmt drückte es eine Sprecherin der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton aus: Die EU habe in der Krise durchgehend deutlich gemacht, dass sie die territoriale Unversehrtheit Malis respektiere. Die Krise in dem westafrikanischen Land müsse innerhalb der verfassungsrechtlichen Bestimmungen beigelegt werden.

Wie die Rebellen den Militärputsch für sich nutzten

Auch die Afrikanische Union (AU) wies die Ausrufung der Unabhängigkeit durch die Rebellen zurück. Diese sei "nichtig und habe keinen Wert", hieß es in einer Erklärung von AU-Kommissionspräsident Jean Ping. Algeriens Ministerpräsident Ahmed Ouyahia sagte der französischen Zeitung "Le Monde", sein Land werde niemals akzeptieren, dass die territoriale Integrität Malis in Frage gestellt werde.

Die Rebellen waren in den vergangenen Wochen immer weiter vorgerückt. Sie brachten eine Stadt nach der anderen unter ihre Kontrolle, darunter auch Timbuktu. Sie profitierten dabei von einem Putsch am 21. März in der Hauptstadt Bamako, wodurch zeitweise die staatliche Ordnung in Mali zusammenbrach.

Angeführt wurden die Tuareg-Rebellen von Offizieren, die in Libyen für den gestürzten Machthaber Gaddafi gekämpft hatten und dann, nach dessen Tod, schwer bewaffnet wieder in ihre Heimat im Norden Malis zurückgekehrt waren.

Die Tuareg warfen der Regierung von Mali vor, sie habe in der Vergangenheit versucht, ihr Volk auszulöschen. Bei verschiedenen Dürreperioden etwa habe sie die Tuareg verhungern lassen wollen. Angeführt wird die NMLA von einem früheren Oberst der libyschen Streitkräfte. In der von ihm unterzeichneten Unabhängigkeitserklärung heißt es, die schlechte Regierung in Mali in den vergangenen 50 Jahren habe die Existenz des Volkes von Azawad gefährdet, ebenso wie die Stabilität der Region und des internationalen Friedens.

Malis Nachbarstaaten erwägen Intervention

Wie lange die Tuareg die Kontrolle im Norden des Landes behalten, ist allerdings ungewiss. Die Militärchefs von 13 Nachbarstaaten Malis kamen schon am Donnerstag in der Elfenbeinküste zusammen, um über eine militärische Intervention zu beraten. Diese soll zwei Ziele haben: Zum einen soll die staatliche Ordnung in Mali wiederhergestellt, zum anderen sollen die Rebellen zurückgedrängt werden.

Der Militärputsch hatte auch Großbritannien alarmiert. Vorübergehend schloss das Königreich seine Botschaft in Mali und zog seine Diplomaten ab. Aufgrund der "instabilen und unvorhersehbaren Lage in Mali sowie dem Fehlen einer verfassungsmäßigen Ordnung" hätten die Mitarbeiter die Botschaft in Bamako verlassen, teilte das Ministerium am Freitag mit.

Wie unsicher die Lage ist, zeigte auch die Entführung des algerischen Konsuls und sechs seiner Mitarbeiter in der nordmalischen Stadt Gao. Sie seien von bewaffneten Männern gezwungen worden, das Konsulat zu verlassen und an einen nicht bekannten Ort gebracht worden, sagte der algerische Außenminister Mourad Medelci. Die Regierung bemühe sich um ihre Freilassung.

Algerische Medien hatten zuvor berichtet, das Konsulat werde von Islamisten angegriffen. Hintergrund ist, dass mit den Tuareg-Rebellen in Mali auch Islamisten gekämpft haben, darunter die Islamistengruppe Ansar Dine mit Kontakten zu al-Qaida. Wie die Machtverhältnisse und wie die Beziehungen untereinander sind, ist derzeit unklar.

Die Islamisten hatten sich zuletzt von den Tuareg distanziert und ihre ehemaligen Verbündeten aus der Stadt Timbuktu vertrieben. Ein Ansar-Dine-Sprecher sagte am Freitag in einer Videobotschaft, seine Gruppierung erkenne die Unabhängigkeitserklärung der Tuareg nicht an. "Wir sind gegen Revolutionen, die nicht im Namen des Islam sind", sagte der Sprecher. Ziel sei es, das islamische Recht der Scharia zu verhängen.

Der Kampf der Tuareg in Mali reicht weit zurück. Vor der Kolonialzeit dominierten sie den Handel durch die Sahara, ein stolzes Nomadenvolk, deren Angehörige sich mit indigoblauen Tüchern vor Sonne und Sand schützen. Sie ritten auf Kamelen und herrschten über ein großes Wüstenreich, bis sie 1902 von französischen Kolonialtruppen geschlagen wurden.

Im Jahr 1958 wandten sie sich in einem Brief an die Franzosen mit der Bitte, ihnen im Norden von Mali einen eigenen Staat zuzugestehen. Aber das Gebiet, in dem die Tuareg leben, wurde dem Süden zugeschlagen. Seitdem gab es etliche Aufstände der Tuareg gegen die ihrer Ansicht nach ungerechte Behandlung durch den Süden, die aber alle niedergeschlagen wurden. Erst der Putsch vom 21. März bot ihnen jetzt die Gelegenheit, innerhalb weniger Tage ein riesiges Gebiet zu erobern.

Rund anderthalb Millionen Tuareg leben mittlerweile auf mehrere Staaten verteilt, rund 600.000 in Niger, gut 300.000 in Mali sowie jeweils mehrere Zehntausend in Algerien, Libyen, Burkina Faso und Mauretanien. Die nördlichen Tuareg halten als Wüstennomaden an ihrem traditionellen Kastensystem fest.

otr/Reuters/dpa/AFP/dapd
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