EU-Verfassung Angst vor der Bevölkerung
Brüssel - Gegen 10.30 Uhr rauscht Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel am VIP-Eingang des klotzigen Justus-Lipsius-Gebäudes vor, in dem der Europäische Rat tagt. Um 11 Uhr steht sie mit 26 Kolleginnen und Kollegen zum "Familienfoto" vor einer Hundertschaft von Fotografen. Alles wie immer. Keine besonderen Vorkommnisse.
Ab in den Konferenzsaal, Merkel und Co. diskutieren über Probleme im Kosovo und am Arbeitsmarkt, Kommissionspräsident José Manuel Barroso macht Vorschläge zur besseren Steuerung der Einwanderung, Europas Außenbeauftragter Javier Solana referiert über die Lage in Iran. 13 Uhr Mittagessen, anschließend Fortsetzung der Debatte. Tiefste EU-Routine. Nichts Aufregendes.
Seltsam. War da nicht was?
Hatte nicht dieselbe Runde noch am Tag zuvor einen "historischen Durchbruch" (Merkel) gefeiert und "die Geburt eines neuen Europas" (Barroso) ausgerufen? In Lissabon, auch gegen Mittag.
Merkel in Schwarz-Rot
Die Herren waren in Schwarz, die wenigen Damen in Schwarz oder Rot gekommen - oder kombiniert wie Angela Merkel: rote Jacke über schwarzer Hose. Als endlich auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy zur Stelle war, wandelte die illustre Schar bedeutungsschwer durch die Gänge des mehr als 400 Jahre alten Hieronymus-Klosters zum Kreuzgang. Auf den Briten-Premier Gordon Brown mussten sie nicht warten. Der hatte sich vorab entschuldigt. Er komme später nach. Er habe keine Zeit oder keine Lust, hieß es.
Im Innenhof des Kreuzgangs sang eine Gruppe junger Menschen "Freude schöner Götterfunken", die inoffizielle Europahymne. Drei kurze Reden, dann setzten 26 europäische Staats- oder Regierungschefs und ihr jeweiliger Außenminister ihren Namen unter den "Reformvertrag von Lissabon". Und alle atmeten tief durch: geschafft!
Der "Vertrag von Lissabon" war unterschrieben. Die Verfassung, von vielen längst totgesagt und quasi beerdigt, war wieder auf den Weg gebracht. In neuen Kleidern, unter anderem Namen aber in der Substanz nur wenig verändert. "Ein schönes Geburtstagsgeschenk für die Europäische Union", strahlte Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments. Vor 50 Jahren waren in Rom die Gründungsverträge des Europäischen Gemeinschaft unterschrieben worden.
Angst vor der Ratifizierung
Freude, Jubel, Feuerwerke also? Keine Spur. Die Regierenden verkrümelten sich leise und trafen sich tags drauf in Brüssel, als wäre nichts gewesen. Bloß kein Aufsehen erregen in der Bevölkerung. Denn die hat die Verfassung schon einmal gekippt. 2005 votierte bei Volksabstimmungen ausgerechnet in den EU-Gründungsnationen Frankreich und den Niederlanden eine Mehrheit gegen die Verfassung. Andere Staaten, wie Großbritannien und Dänemark, führten daraufhin ihre Referenden gar nicht mehr durch und brachen den Ratifizierungsprozess ab.
Dieser gefährlichste Teil der Wegstrecke liegt nun wieder vor den EU-Strategen: Im kommenden Jahr muss der neuformulierte Vertrag in allen 27 EU-Ländern mit Mehrheit beschlossen werden. Und "wenn die Ratifizierung nur in einem einzigen Land scheitert", warnte der portugiesische Außenminister Luis Amado die Regierungen Europas, käme "der ganze Prozess zum Stillstand. Dann hätten wir in Europa eine noch schlimmere Krise als vorher."
Darum will, außer den Iren, nun keiner mehr ein Referendum über die heiklen Verträge wagen. Die Parlamente sollen den Vorgang abnicken, das scheint den Regenten ungefährlicher als das Volk zu fragen. Das könne das knapp 300 Seiten lange Juristenwerk ohnehin nicht verstehen. In Irland geht es nicht anders, da schreibt die Verfassung den Volksentscheid vor. Und schon dort, auf der traditionell europafreundlichen Insel, ist der Ausgang ungewiss. Die meisten Iren wissen noch nicht, wie sie stimmen werden. Fraglich ist auch, ob die britische Regierung ein Referendum tatsächlich vermeiden kann gegen die konservative Opposition, gegen das Boulevard-Imperium des Zeitungszaren Rupert Murdoch und gegen eine wachsende Schar von Kritikern in den eigenen Labour-Reihen.
EU-Kommission will in Winterschlaf fallen
Auch in anderen Ländern regt sich Widerstand. Besondere Schützenhilfe hat die EU-Kommission in Brüssel deshalb versprochen: Sie will nächstes Jahr in eine Art Winterschlaf fallen und sich mit neuen Verordnungen und Richtlinien so weit wie möglich zurückhalten, vor allem mit solchen, die Unmut beim Bürger entfachen könnten. Den Skeptikern und Gegnern keine Munition liefern, heißt die Devise, Schaden abwenden vom Europäischen Projekt.
Dabei sind es nicht die EU-Kritiker, die den größten Schaden an der europäischen Idee anrichten. Denn die zwingen den Konstrukteuren eines wirtschaftlich, juristisch und politisch zusammenwachsenden Kontinents wenigstens ab und zu eine Diskussion auf. Die pro-europäischen politischen Eliten und ihre diplomatischen und technokratischen Helfer wollen "das Haus Europa", wie Ex-Kanzler Helmut Kohl es immer nannte, dagegen am liebsten im Schutze der Dunkelheit bauen. Das wird nicht funktionieren.
Die Sache sei zu kompliziert, um das Volk damit zu befassen, sagen viele, die sich für "gute Europäer" halten. Populisten könnten andernfalls ihre Süppchen kochen. Dabei kochen die längst. Gerade die politische Elite, die vorgibt, Europa zu schützen, nimmt das fragile Geschöpf regelmäßig in Geiselhaft. Sie beschließt in der Brüsseler Anonymität Gesetze und Verordnungen, von denen sie sich daheim umgehend distanziert. Aus Angst vor den Bauern, den Handwerkern oder welcher Wählergruppe auch immer. Diese Maskerade schadet Europa.
Der alte Geist der Gründergeneration trägt nicht mehr. Er lässt sich auch nicht wiederbeleben. Das Projekt Europa braucht eine neue demokratische Legitimation. Nötig ist eine breite Diskussion: Was wollen wir bauen? Mit welchem Ziel? Auf der Basis welcher Werte? Innerhalb welcher Grenzen?
Aber weil die Angst der Regenten vor ihrem Volk so groß ist, wollen sie auch diese Diskussion lieber im Stillen führen lassen: In der jetzt beschlossenen "Nachdenkgruppe Horizont 2020 2030" sollen pensionierte Staatsmänner und Staatsfrauen und vielleicht auch einige Ex-Wirtschaftsbosse über Europas Zukunft nachdenken.