EU-Verfassung Hollands Nein löst politisches Beben in Europa aus

Das EU-Debakel in Frankreich und den Niederlanden stürzt die Europäische Union in eine tiefe Krise. Für Großbritannien wirft das zweifache Nein grundsätzliche Fragen zu Europa auf. Nun müssen die Staats- und Regierungschefs bei ihrem Gipfel in Brüssel nach Antworten suchen.

Brüssel - "Europa lässt die Menschen nicht mehr träumen", sagte der amtierende EU-Ratspräsident Jean-Claude Juncker in Brüssel. "Man liebt das bestehende Europa nicht und deswegen lehnt man das Europa ab, das der Verfassungsentwurf vorschlägt." Vor allem in Asien und den USA "beginnt der Zweifel sich auszubreiten, herrscht Unsicherheit und macht man sich Gedanken über Europas künftigen Weg": "Das ist eine gefährliche Situation, die den globalen Einfluss Europas zu schmälern droht", sagte der Ratsvorsitzende.

Zur Frage, ob die Verfassung "tot" sei, sagte Juncker: "Ich bin kein Arzt. Ich kann Ihnen keine definitive Auskunft über den Gesundheitszustand des Patienten geben. Wer weiß schon, was diese Krankheit für den Organismus bedeutet und ob sie dauerhafte Folgen hat. Dies ist nicht der erste Schlag gegen Europa und Europa hat sich jedes Mal wieder aufgerappelt. Europa ist im Augenblick noch nicht niedergestreckt."

Juncker kündigte in Brüssel an, er werde dem EU-Gipfel am 16. und 17. Juni Vorschläge präsentieren, um die Handlungsfähigkeit der Union unter Beweis zu stellen. Ein Beschluss für ein Ende des Ratifizierungsprozesses komme nicht in Frage. Auch andere Länder hätten das Recht ihre Ansicht zu äußern. Anschließend sollten EU-Staaten überlegen, was zu tun ist, sagte der luxemburgische Regierungschef.

Auch Frankreichs Staatspräsident Jaques Chirac zeigte sich nach dem Nein der Niederländer besorgt über die Zukunft des französischen Projektes. Er bezeichnete das negative Votum als "Zeichen der Erwartungen, Fragen und Sorgen über die europäische Entwicklung". In der Europäischen Union müsse man sich jetzt die Zeit nehmen, um diese nach dem Nein der Franzosen zweite Ablehnung in einem der Gründungsländer des Europäischen Aufbaus "gründlich zu analysieren", sagte der Präsident.

Besorgnis in Luxemburg

Die Verfassung kann nur in Kraft treten, wenn alle 25 EU-Staaten zustimmen. Bislang haben neun Staaten zugestimmt, davon nur Spanien mit einem Referendum. Juncker äußerte sich besorgt über das luxemburgische Referendum am 10. Juli. Heute Morgen stimmte jedoch erstmal das lettische Parlament in Riga mit 71 zu fünf Stimmen der Verfassung zu. Damit haben zehn Staaten mit der Hälfte der EU-Bevölkerung die Verfassung ratifiziert.

Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso rief die EU-Staaten auf, vor dem Gipfel keine einseitigen Schritte zu unternehmen. Einseitige Entscheidungen könnten einen Konsens aller EU-Staaten erschweren. Der Gipfel müsse klar machen, wie es weiter geht. Europa müsse jetzt zeigen, dass es weiterhin handlungsfähig sei. "Europa ist nicht das Problem, Europa ist die Lösung der Probleme der Menschen."

Wie Juncker plädierten auch der Präsident des Europäischen Parlaments, Josep Borrell, und Barroso für die Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses. "Alle europäischen Bürger müssen die Gelegenheit haben, ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen", sagte Borrell. Juncker betonte, dieser Ansicht seien auch alle EU-Staats- und Regierungschefs, die er seit dem Nein der Franzosen am vergangenen Sonntag gesprochen habe.

Schäuble gibt Bundesregierung Mitschuld

Auch die Bundesregierung bedauerte das Nein der Niederländer und sprach sich für eine Fortsetzung des Verfassungsprozesses aus. Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte, er nehme den Ausgang des Referendums mit Respekt, aber auch mit großem Bedauern zur Kenntnis: "Ich bin weiterhin überzeugt, dass wir die Verfassung brauchen, wenn wir ein demokratisches, soziales und starkes Europa wollen." Außenminister Joschka Fischer sagte, die Entscheidung stelle Europa vor große Herausforderungen.

Der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble gab der Bundesregierung eine Mitschuld am Scheitern der Abstimmungen. "Die Regierungen in Berlin und Paris tun so, als wäre etwa die Erweiterung Schuld an der hohen Arbeitslosigkeit. Sie tun so, als sei der Stabilitätspakt die Ursache mangelnden Wirtschaftswachstums", sagte Schäuble der Tageszeitung "Die Welt". "Wenn Brüssel herhalten muss, um von der eigenen Unfähigkeit bei der Lösung von Problemen abzulenken, dann darf man sich über derartige Ausgänge von Referenden nicht wundern."

Wackelkandidat Großbritannien

Besonders Großbritannien gilt in der EU als Wackelkandidat bei der Fortsetzung des Ratifizierungsprozesses. Der britische Außenminister Jack Straw ließ wie bereits nach der französischen Volksbefragung offen, ob seine Regierung ihr Referendum noch abhält. Für den innenpolitisch angeschlagenen Premierminister Tony Blair könnte ein Referendum eine bittere und gefährliche Niederlage bringen. Straw sagte, es stellten sich "grundlegende Fragen an uns alle über die künftige Richtung Europas". Er kündigte erneut an, sich am Montag im Parlament zu den Folgen der Abstimmungen zu äußern.

Das Büro von Blair lehnte eine Stellungnahme zu dem Votum der Niederländer ab. Da Großbritannien im Juli von Luxemburg die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, wird Blair künftig eine wichtige Rolle im Verfassungsprozess zukommen.

Als erste Regierung rief Tschechien dazu auf, den Ratifizierungsprozess zu verlängern. Bislang sollen alle EU-Staaten bis November kommenden Jahres in Parlamenten oder Referenden entscheiden. Regierungschef Jiri Paroubek sagte, er werde für eine Verlängerung der Frist werben, damit Länder wie Frankreich mehr Zeit bekommen, ihre Position zu überdenken.

EU-Diplomaten sagten, wahrscheinlich würden sich noch mehrere Länder für eine Atempause einsetzen. Der deutsche Vertreter im Präsidium des Verfassungskonvents, Klaus Hänsch, rief das niederländische Parlament auf, das Referendum formell erst zu bestätigen, bis sich alle EU-Staaten geäußert haben. "Rettungswege aus der kommenden Krise Europas dürfen nicht blockiert werden."

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