Datenanalyse zur Europawahl Grüne holen Millionen Stimmen von SPD und Union
Von einem "Sunday for Future" sprach der Spitzenkandidat der Grünen, Sven Giegold, als Reaktion auf das Ergebnis der Europawahl - in Anspielung auf die "Fridays for Future". Bei dem Votum am Sonntag holte die Ökopartei 20,5 Prozent und damit fast zehn Punkte mehr als bei der Europawahl vor fünf Jahren (10,7 Prozent). Am stärksten punkten die Grünen bei jungen Wählern - also auch der Zielgruppe der Klimaschutzbewegung. Ihre Hochburgen haben die Grünen zudem in den Metropolen der Bundesrepublik (den Kommentar zur "deutschen Teilung" lesen Sie hier).
Woher kommen die Stimmen? Die Erhebung von Infratest dimap für die ARD zeigt, dass die Grünen ehemalige Wähler fast aller anderen Parteien überzeugen konnten. Der etwas größere Teil kommt aus dem linken Lager: Abzüglich der von den Grünen abgewanderten Wähler waren es gut 1,2 Millionen ehemalige SPD- und gut 600.000 Linke-Wähler. Aus dem bürgerlichen Lager liegt der Zustrom im siebenstelligen Bereich: mehr als eine Million ehemalige Unionswähler, sowie fast eine halbe Million ehemalige FDP-Wähler. Als Vergleich dient hier die letzte Bundestagswahl.
Die Unionsparteien bleiben zwar stärkste Kraft, schnitten mit 28,9 Prozent der Stimmen aber so schlecht ab wie nie zuvor bei einer bundesweiten Wahl. Wird das Unionsergebnis in CDU- und CSU-Stimmen aufgeteilt, zeigt sich: Die Verluste gehen aufs Konto der CDU (22,6 Prozent), die bayerische Schwesterpartei hat im Vergleich zur letzten Europawahl leicht besser abgeschnitten (40,7 Prozent). Insgesamt verloren hat die Union neben den Grünen auch an fast alle anderen Parteien, etwa die kleinen, sonstigen Gruppierungen (eine Analyse dazu lesen Sie hier).
Die AfD hat mehr als jeden Dritten, der sie noch bei der Bundestagswahl 2017 gewählt hatte, an die Gruppe der Nichtwähler verloren. Die deutlichsten Zugewinne kommen bei ihr von Union und FDP.
Quelle: Infratest dimap/ARD (Schätzung auf Basis von Vor- und Nachwahlbefragungen, Wahl- und Bevölkerungsstatistiken)
Das Wahlforschungsinstitut Infratest dimap schätzt die Wanderungszahlen auf Grundlage eigener Befragungen vor und während der Wahl, dem vorläufigen Endergebnis, sowie weiterer amtlicher Statistiken. Die Werte sind eine grobe Größenordnung dafür, wie viele Wähler eine Partei im Vergleich zu einer früheren Wahl halten konnte und wie viele zu und von anderen Parteien ab- oder zugewandert sind.
Die bereits angedeutete Besonderheit diesmal: Im Gegensatz zu anderen Wahlen stellt Infratest dimap die Wählerwanderung nicht im Vergleich zur vorherigen Wahl desselben Typs dar - also zur Europawahl 2014. Stattdessen vergleicht das Institut die jetzige Europawahl mit der Bundestagswahl 2017. WDR-Wahlexperte Jörg Schönenborn erklärte das damit, dass sich viele Wählerinnen und Wähler bei der Nachwahlbefragung nicht mehr an ihre Wahlentscheidung vor fünf Jahren erinnern konnten.
Durch den Vergleich mit der Bundestagswahl kommt es zu einer scheinbar starken Abwanderung von fast allen Parteien zu der Gruppe der Nichtwähler. Das liegt an der deutlich höheren Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen: 2017 lag sie bei gut 76 Prozent, bei der diesjährigen Europawahl betrug sie hingegen nur knapp 62 Prozent.
Damit war die Wahlbeteiligung in diesem Jahr für Europawahlverhältnisse dennoch besonders hoch: 62 Prozent - so viele waren es zuletzt im Juni 1989. Im Vergleich zur letzten Europawahl 2014 stieg die Beteiligung um rund 14 Prozentpunkte. Diesmal waren in Deutschland 64,8 Millionen Menschen wahlberechtigt.
Der Blick auf die Altersverteilung zeigt deutlich, wie unterschiedlich sich die Bundesbürger je nach Alter entschieden haben. Am stärksten punkten die Grünen bei jungen Wählern, aber nicht nur dort: Bei den unter 60-Jährigen wurden sie mit 25 Prozent stärkste Kraft - bei den 25- bis 34-Jährigen holten sie sogar 27 Prozent, bei den 18- bis 24-Jährigen gar 34 Prozent.
Bei den über 70-Jährigen sammelte die Union 48 Prozent der Stimmen ein, die SPD immerhin noch 26 Prozent. Für die Grünen stimmten in dieser Altersgruppe nur neun Prozent.
Den Grünen half außerdem, dass das Thema Klimaschutz derzeit von vielen Wählern als besonders wichtig eingestuft wird. 48 Prozent der Wähler gaben an, dass für sie Klima- und Umweltschutz das wichtigste Thema bei der Wahlentscheidung war - und hier wird den Grünen offensichtlich die größte Kompetenz zugetraut. Die Partei bezeichnete ihr historisches Ergebnis als "Signal für mehr Klimaschutz".
Neben dem Klimaschutz ging es im Wahlkampf insbesondere um Mindestlöhne, die Besteuerung von Internetkonzernen, die Migrationspolitik und die Debatte um das Urheberrecht im Internet. Bestimmt war die Kampagne aber auch von Sorgen vor einem Erstarken von Rechtspopulisten und Nationalisten.
AfD-Chef Alexander Gauland sprach von einem "schwierigen Wahlkampf". Angesichts dessen sei er mit dem Ergebnis zufrieden, sagte er im ZDF. In Ostdeutschland kann die AfD hingegen feiern. In Sachsen und Brandenburg, wo im Herbst Landtagswahlen anstehen, liegen die Rechtspopulisten vor der CDU.
Beim Blick auf die Tätigkeitsfelder der Wähler zeigt sich, dass die AfD nicht nur bei den Arbeitern punktete, sondern auch bei den Arbeitslosen. 21 Prozent der Erwerbslosen wählten die AfD. In dieser Gruppe waren auch die Grünen mit 17 Prozent überraschend stark.
Eine zweite große Gruppe der Grünen-Wähler sind zudem Angestellte (26 Prozent wählten Grüne) und Selbstständige (25 Prozent). Die Unionsparteien schnitten bei den Rentnern (41 Prozent) besonders gut ab.