Anti-Brüssel-Stimmung Wie Polen aus der EU stolpern könnte

Demo in Warschau (2016)
Foto: Kacper Pempel/ REUTERSKanzlerin Merkel kommt zu Besuch und im Büro von Jaroslaw Kaczynski bricht Hektik aus. Der Chef der rechtsnationalen Regierungspartei PiS und sein Adjutant durchwühlen Regale und Schränke. Wo ist bloß die EU-Fahne geblieben? Schließlich finden sie den "Lappen", wie sie sagen, in einem Gummistiefel, zerknittert und fleckig.
Diese Szene hat nie stattgefunden, sie stammt aus der polnischen YouTube-Satireserie "Das Ohr des Präsidenten". Aber, und das ist der Punkt: Sie wirkt in diesen Tagen nicht mal allzu sehr ausgedacht. Die EU steht nicht hoch im Kurs bei der Regierung in Warschau, seit ihrer Wahl vor zwei Jahren hat sie Polen in Europa isoliert. Die EU-Kommission lässt prüfen, ob die Regierung gegen die Werte der EU verstoßen hat, indem sie das Verfassungsgericht entmachtete und das Justizsystem umbaute. In der angeforderten Stellungnahme, die die polnische Regierung diese Woche der EU zustellte, zeigt sie keine Bereitschaft zum Einlenken. Möglicherweise verliert Polen am Ende sogar sein Stimmrecht im EU-Rat.
Schon jetzt aber tut das Land so, als habe es an der EU eh kein Interesse mehr, als sei die Mitgliedschaft eher eine unliebsame Last. Als vergangene Woche Frankreichs Präsident Emmanuel Macron Osteuropa bereiste, um dafür zu werben, dass sie ihre Bürger nicht länger als Billigarbeiter nach Westeuropa schicken, schwenkten Tschechien, Rumänien, Bulgarien und die Slowakei ein. Polen dagegen besuchte Macron erst gar nicht.
Dort wäre er auch nicht willkommen gewesen.
"Ich rate dem französischen Präsidenten, sich um die Angelegenheiten seines Landes zu kümmern, damit er die gleichen wirtschaftlichen Ergebnisse erzielt und das gleiche Maß an Sicherheit erreicht wie Polen", sagte Premierministerin Beata Szydlo. Ihre Regierung verhandelt nicht, sondern bekämpft die europäischen Partner. Die Regierung scheint sich wohl zu fühlen in der Rolle des Randalierers. Und immer mehr Polen scheinen es ähnlich zu sehen.
Dabei ist das Verhältnis der Polen zur EU eigentlich positiv: 88 Prozent geben noch immer in Umfragen an, für eine Mitgliedschaft zu sein. Das ist Rekord unter den Osteuropäern. Keine ernst zu nehmende Partei tritt offen für den Austritt ein, anders als in Großbritannien oder Frankreich. Doch diese Zustimmung ist leicht ins Wanken zu bringen. Fragen die Meinungsforscher zum Beispiel: Soll Polen im Rahmen europäischer Vereinbarungen Flüchtlinge aufnehmen - oder besser austreten? Dann sprechen sich 51 Prozent für den Polexit aus. Und das, obwohl kaum ein Land so von der EU-Mitgliedschaft profitiert hat wie Polen. 3,5 Prozent Wachstum wird es in diesem Jahr erwirtschaften, auch weil es sich mithilfe der EU von einem rückständigen Agrarland zu einem Hightech-Standort entwickelt hat.
Unmut über angebliche "Deutschland-EU"
Doch viele Polen verstehen die EU vor allem als Geldautomaten, eine Sichtweise, die die Regierung fördert. Der Tenor: Das Beste von der EU haben wir mitgenommen, jetzt kommen nur noch Flüchtlinge und die Homo-Ehe. "Die EU wird systematisch schlechtgeredet", sagt Marek Prawda, Vertreter der EU-Kommission in Warschau. Sie ist, so sieht man es hier, ein bürokratischer Moloch, gesteuert von den Deutschen, die ihre Political-Correctness-Agenda aus Feminismus, Atomausstieg, Umweltschutz und Willkommenspolitik verbreiten wollten.
Gleichzeitig setze diese "Deutschland-EU" aber rücksichtslos ihre Interessen durch, plane eine weitere Ostseepipeline für russisches Gas vorbei an Polen und behindere polnische Firmen, die im Westen Fuß fassen wollten. Kurzum: Europa will Polen kleinhalten - und weil es sich wehrt, werde es bestraft. Das Rechtsstaatlichkeitsverfahren ist reine Schikane gegen ein tapferes Volk, so sieht es Kaczynski. Ein Narrativ, das ankommt.
Damit setzt die Regierung einen gefährlichen Mechanismus in Gang: Sie redet die EU schlecht, sie verweigert sich konstruktiven Verhandlungen und diplomatischen Gepflogenheiten. Als Reaktion wendet sich der Rest der EU ab - und gibt den Polen umso mehr das Gefühl, Außenseiter zu sein. Dieser Prozess ist schon im Gange: Emmanuel Macron machte vor seiner Osteuropa-Tournee deutlich: "Polen ist ein Land, das gegen die europäischen Interessen verstößt."
Polens Blockadehaltung in der Flüchtlingskrise schwächt die EU
Das Land verspielt sein Gewicht, das es als Nation mit 38 Millionen Bürgern haben könnte; seine Stimme wird immer weniger gehört werden. Als erstes werden Warschaus Chancen sinken, bei Haushaltsverhandlungen seine Positionen durchzusetzten, wie etwa eine Aufstockung der Agrarsubventionen. Polen wird unter der PiS-Regierung den Euro nicht einführen, und sich damit auf Dauer aus der EU-Kerngruppe ausschließen. Sollte es später einmal um die Rettung Italiens oder Griechenlands gehen, wird Warschaus Bereitschaft selbst zu symbolischer Unterstützung gering sein. Schon zu Hochzeiten der Griechenlandkrise hatten PiS-Politiker die Hilfen kritisiert.
Vor allem aber wird Warschau sich weiterhin weigern, auch nur ein paar Tausend Syrer aufzunehmen. Das Signal an Einwanderungsländer wie Deutschland, Frankreich oder Schweden: Die Polen nehmen, aber wollen nicht geben. Solch ein Boykott gemeinsamer Projekte schwächt die EU als Ganzes.
Noch beteuern die Außenpolitiker der Partei, Polen stehe treu zur EU. An einen Austritt denke niemand. Doch das kann sich ändern, "wenn Europa immer mehr außerhalb Polens stattfindet", wie Kommissionsvertreter Prawda fürchtet.
Sollte das Land im Rechtsstaatsverfahren sein europäisches Stimmrecht verlieren, würde das Risiko für einen Ausstieg per Referendum wachsen. Die Hemmschwelle könnte sinken, die historische Errungenschaft des EU-Beitritts infrage zu stellen, um von innenpolitischen Problemen abzulenken - so wie in Großbritannien vor dem Brexit. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski, ebenso instinktsicher wie machtfixiert, wird sich diese Chance kaum entgehen lassen.