Krise der EU Ach, Europa

Im Flüchtlingsdrama ist keine Einigung in Sicht, die Eurokrise schwelt weiter, Rechtspopulisten gewinnen Wahlen, Großbritannien droht auszusteigen. Ist die EU zum Scheitern verurteilt?
Flagge der EU auf bröselndem Asphalt: Scheitert die Union?

Flagge der EU auf bröselndem Asphalt: Scheitert die Union?

Foto: imago

Selbst das Führungspersonal klingt nicht unbedingt optimistisch: "Das Scheitern Europas ist ein realistisches Szenario", sagt EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD). "Die Europäische Union kann auseinanderbrechen", unkt Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn. Vor der "Desintegration des Projekts Europa" warnt Frans Timmermans, Vizechef der EU-Kommission. Zumindest so viel ist unübersehbar: Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Der Flüchtlingsandrang, die Wahlerfolge von Rechtspopulisten, die "Brexit"-Überlegungen der Briten, Streit mit Russland - alles Probleme, die an die Substanz gehen.

Doch wie düster ist die Perspektive wirklich? Steht der Zusammenhalt der Union auf dem Spiel? Oder ist die aktuelle Krise nur eine von vielen, und am Ende geht die EU sogar gestärkt daraus hervor?

SPIEGEL ONLINE hat Politikwissenschaftler und EU-Insider zu den zentralen Problemfeldern der Union gesprochen:

  • Osteuropa schert in der Flüchtlingskrise aus

Stacheldraht an der slowenisch-österreichischen Grenze: Radikale Maßnahmen

Stacheldraht an der slowenisch-österreichischen Grenze: Radikale Maßnahmen

Foto: Jure Makovec/ AFP

Rund 1,55 Millionen Flüchtlinge haben die EU-Grenzen zwischen Januar und November illegal überschritten, besagen aktuelle Zahlen der Grenzschutzagentur Frontex. Und es gibt kaum Anzeichen, dass der Andrang abebbt. Inzwischen erwägt die EU-Kommission radikale Maßnahmen, um die Zuwanderung zu dämpfen - etwa den Einsatz europäischer Grenzschutztruppen, notfalls auch gegen den Willen von einzelnen Mitgliedstaaten.

Doch schon die Umverteilung eines Bruchteils der Migranten scheiterte. Ungarn und die Slowakei, die bei der Flüchtlings-Umverteilung von den anderen Mitgliedstaaten überstimmt wurden, klagen gegen den Beschluss. Auch Polen hat inzwischen erklärt, sich nicht mehr an die Vereinbarung gebunden zu fühlen. "Der Umverteilungsplan ist tot", sagt ein erfahrener EU-Diplomat.

"Die Osterweiterung der EU ist gescheitert", sagt deshalb der Politikwissenschaftler Andreas Maurer, der an der Uni Innsbruck lehrt. Erst 2007 hätten die EU-Staaten - darunter auch die eben erst beigetretenen zwölf osteuropäischen Mitglieder - vereinbart, dass die EU künftig häufiger per Mehrheit und seltener einstimmig entscheidet.

  • Deutschlands Alleingang

Merkel mit Flüchtlingen (Aufnahme vom September 2015): Kritik am "Hippie-Staat" Deutschland

Merkel mit Flüchtlingen (Aufnahme vom September 2015): Kritik am "Hippie-Staat" Deutschland

Foto: Bernd von Jutrczenka/ dpa

Kritik gibt es auch an der deutschen Regierung, weil sie beschloss, dass Dublin-Abkommen vorübergehend außer Kraft zu setzen und die Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen. Als "Hippie-Staat" bezeichnet der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees Deutschland. "Die Bundesregierung betreibt eine Politik der Gefühle anstatt eine Politik von Vernunft und Konsens", sagt Glees zu SPIEGEL ONLINE. "Damit hat die Bundesrepublik die Rolle aufgegeben, die sie seit 1949 gespielt hat: die eines verlässlichen Partners, der sich an Regeln hält."

Solange die Flüchtlinge dank des Dublin-Abkommens in Italien und Griechenland blieben, interessierte sich in Deutschland kaum jemand für sie. Erst als sie in Massen über Deutschlands Grenzen drängten, entdeckten die Deutschen ihr Herz für Flüchtlinge - und fordern jetzt Solidarität von den anderen EU-Ländern. Doch da wollen nur wenige mitmachen. "Jetzt spielen die anderen uns die Melodie vor, die sie damals von uns zu hören bekamen", sagte Matthias Ruete, Chef der Generaldirektion Migration und Inneres der EU-Kommission, kürzlich bei einer Podiumsdiskussion in Brüssel.

  • Rechtspopulisten und Eurogegner im Aufwind

Wahlkampf der EU-Gegner vom französischen Front National: Europa taumelt

Wahlkampf der EU-Gegner vom französischen Front National: Europa taumelt

Foto: BORIS HORVAT/ AFP

Die Flüchtlingskrise gilt auch als eine der wichtigsten Ursachen für das Erstarken von europaskeptischen und rechtspopulistischen Parteien und Bewegungen - von Pegida und AfD in Deutschland über den Front National in Frankreich bis hin zu Ukip in Großbritannien und PiS in Polen. Sie schüren die Angst vor Fremdem und appellieren ans Nationalbewusstsein.

Der US-Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman bezeichnete die EU in der "New York Times"  als "Elitenprojekt, das als alternativloser Weg der Weisheit verkauft wurde". Das aber funktioniere nur so lange, wie die Menschen von der Weisheit ihrer Anführer überzeugt seien. Doch die diversen Krisen und vor allem das Flüchtlingsdrama vermitteln eher den Eindruck, dass Europas Regierungen hoffnungslos überfordert sind.

In Polen sind die Rechtspopulisten mit der nationalkonservativen Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) bereits an der Macht. In weniger als zwei Monaten hat die PiS-Regierung mit harten Maßnahmen gegen Justiz und Medien Zehntausende Demonstranten auf die Straße getrieben und Drohungen aus Brüssel provoziert.

Doch dramatischer wäre Front-National-Chefin Marine Le Pen als Frankreichs Staatsoberhaupt. "Das würde den Fortbestand der EU gefährden, ein Schlüsselland würde wegbrechen", meint Nicolai von Ondarza von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Die Erfolge der Rechtspopulisten hätten auch mit der Enttäuschung über die etablierten Parteien zu tun, sagt der Politikwissenschaftler Werner Weidenfeld: "Die EU muss sich über neue Erfolge definieren. Solange das nicht geschieht, taumelt Europa."

Das Dilemma wird bei der Debatte über das britische Referendum über die EU-Mitgliedschaft deutlich: Während die EU-Befürworter dem Volk kompliziert erklären müssen, warum eine Mitgliedschaft vorteilhaft ist, muss das Nein-Lager nicht viel mehr tun, als an den britischen Nationalstolz zu appellieren und die EU als intransparentes, undemokratisches Bürokratiemonster zu geißeln. Laut jüngsten Umfragen haben die Befürworter des "Brexit" inzwischen rund die Hälfte der Briten auf ihrer Seite.

Russische Soldaten bei Manöver in Serbien: Neue Aggressivität

Russische Soldaten bei Manöver in Serbien: Neue Aggressivität

Foto: © Marko Djurica / Reuters/ REUTERS

  • Russland führt Europa in der Sicherheitspolitik vor

Erst Georgien, dann die Annexion der Krim und die Intervention in der Ukraine, jetzt der Einsatz in Syrien: Russlands neue Aggressivität stellt den Westen auf die Probe. Der EU macht sie vor allem eines deutlich: "Eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt es nicht", sagt Annegret Bendiek von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zwar wurden Sanktionen gegen Moskau verhängt, dennoch herrsche in der EU "strategische Uneinigkeit": Die baltischen Staaten und Polen etwa fordern Nato-Truppen an ihren Ostgrenzen, andere sehen Moskau vor allem als Handelspartner und stehen den Sanktionen skeptisch gegenüber.

In Sonntagsreden fordern Europapolitiker zudem zwar seit Langem eine Vereinheitlichung der europäischen Außen-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Entwicklungshilfepolitik - weil nur so Krisenländer stabilisiert und größere Flüchtlingswellen verhindert werden könnten. "Wir müssen unsere Außen- und Entwicklungspolitik deutlich stärker darauf ausrichten, Konflikte zu lösen und Fluchtursachen zu bekämpfen", sagte Kanzlerin Merkel in einer Rede vor dem Europaparlament. Doch dazu müssten Europas Staaten in großem Umfang Souveränität abgeben. Das aber scheint niemand zu wollen.

Anti-Europa-Protest in Athen: Sorgenfall Griechenland

Anti-Europa-Protest in Athen: Sorgenfall Griechenland

Foto: Socrates Baltagiannis/ dpa

  • Eurokrise: Unwucht zwischen Nord und Süd

Das gilt auch für die Finanzpolitik. 2012 erreichte die Eurokrise ihren Höhepunkt, als mehrere Länder der Eurozone heftig ins Schlingern gerieten. Krisenländer wie Portugal, Irland und Spanien haben sich dank teils drakonischer Sparprogramme inzwischen wieder stabilisiert, während Griechenland noch immer das Sorgenkind ist.

Doch der Kern des Problems besteht weiter: die gigantischen Ungleichgewichte in der Währungsunion, ohne dass es eine gemeinsame Finanzpolitik gibt. Während Deutschland weiter massive Handelsüberschüsse erzielt, kommt die Wirtschaft in Südeuropa kaum in Schwung - auch wegen der von Deutschland diktierten Sparpolitik, die Investitionen erschwert. Zugleich aber sträuben sich Deutschland und andere nordeuropäische Länder, für die Schulden des Südens aufzukommen. Das, glauben Experten, kann auf Dauer nicht gut gehen. Entweder, so ihr Argument, sind die reichen Länder bereit, den ärmeren zu helfen - oder der Euro wird scheitern.

Kann die EU also auseinanderbrechen? Das Fazit

Ein Zerfall der Europäischen Union ist dennoch schon aus praktischen Gründen schwer vorstellbar. Der Rauswurf einzelner Länder ist in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Leichter möglich ist ein Austritt von Staaten aus der Gemeinschaft. Dies ist in Artikel 50 des EU-Vertrags sogar ausdrücklich vorgesehen. Eine besonders radikale Idee lautet daher, dass einige Staaten die EU verlassen und eine neue Union gründen.

Anfang 2013, auf dem Höhepunkt der EU-Schuldenkrise, soll ein solches Szenario auch im Berliner Kanzleramt besprochen worden sein. Beamte aus dem Wirtschafts- und dem Finanzministerium hätten in vier Themenkreisen mit unabhängigen Experten über die Zukunft der Währungsunion und der EU diskutiert, wie ein Teilnehmer berichtet. Dabei sei es auch um die Gründung einer neuen Gemeinschaft gegangen, bei der es sich um eine deutsch-französisch dominierte Avantgarde gehandelt hätte. Die Bundesregierung bestreitet dagegen, dass im Kanzleramt jemals Planspiele zu einem EU-Austritt Deutschlands stattgefunden hätten.

Ein gemeinsamer EU-Austritt der wichtigsten Staaten sei "nicht realistisch, aber als Drohkulisse diskutabel", meint Politikprofessor Maurer. Er könnte sich aber vorstellen, dass die europäische Freihandelsorganisation Efta zu einer "EU light" umgebaut wird - für Staaten, die der EU aus wirtschaftlichen Gründen angehören wollen, ansonsten aber nur wenige ihrer Werte teilen.

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