Christian Neef

Russlands Hooligan-Problem Schuld haben immer die anderen

In Russland werden die Hooligans für ihre Krawalle bei der EM kaum kritisiert - sondern verteidigt. Die Schläger seien provoziert worden, heißt es vielfach. Dahinter steckt auch blanker Nationalismus.
Ausschreitung in Marseille

Ausschreitung in Marseille

Foto: Daniel Dal Zennaro/ dpa

Die Warnung der Uefa, die russische Sbornaja von der Fußball-EM in Frankreich auszuschließen, sollten sich Stadionkrawalle wie die in Marseille wiederholen, wirkt. Es fragt sich nur: in welche Richtung.

In Moskau ist die Empörung groß. Das Staatsfernsehen spricht von einer Provokation. Es wird nicht ganz klar, wen es damit meint: die Uefa, die Engländer oder die westliche Welt. Ein Mitglied des außenpolitischen Komitees im Föderationsrat, dem Oberhaus des Parlaments, fordert das russische Außenministerium auf, "hart zu reagieren - und solch ein Verhalten uns gegenüber gleich in der Anfangsetappe zu unterbinden. Man muss unsere Bürger in Frankreich verteidigen". Gemeint sind die Schlachtenbummler, die in Marseille Feuerwerkskörper warfen und mit Stühlen auf Engländer eindroschen.

Der Sprecher von Präsident Putin sagt: "Wir können unsere Fans nur aufrufen, auf Provokationen, egal welcher Art, nicht zu reagieren." Das ist fein formuliert - das Wort "Provokationen" meint, man habe ja nur auf andere reagiert. Auch die Moskauer Zeitung "Kommersant" bereitet sich in diesem Sinne auf den nächsten Zwischenfall vor: Die russischen Schlachtenbummler werden möglicherweise "zu einem neuen Konflikt provoziert - und natürlich sind sie dann die Schuldigen", lautet die Schlagzeile auf der heutigen Titelseite.

Man kann ja über vieles streiten. War die Bewährungsstrafe der Uefa ungewöhnlich hoch? Ja. Sind auch die englischen Hooligans immer für Randale gut? Ja. Und war die französische Polizei vielleicht überfordert? Ebenfalls ein Ja.

"Russen suchen Fehler immer bei anderen"

Für genauere Debatten ist in der russischen Öffentlichkeit jedoch keine Zeit. Die Kommentare lesen sich so: "Tolle Kerle, habt richtig Courage gezeigt!" - "Schlagt die hässlichen Briten!" - "Was wir auf dem Fußballfeld nicht können - außerhalb des Feldes sind wir die Besten!" - "Rächen wir uns für unsere Großväter!" Warum sogar die Großväter ins Spiel kommen, ist nicht ganz klar. Der Rest aber schon.

Auch der "Sport Express", die große Moskauer Sportzeitung, geht heute kaum mit den eigenen Fans ins Gericht. Auf Seite 1 steht: "Die französische Fälschung. Warum die Euro 2016 das seit Jahren am schlechtesten organisierte Turnier ist." Dass Russen auf Engländer einschlugen und umgekehrt, dafür hat der Autor eine Erklärung parat: "Hauptschuldiger an diesem Chaos ist die französische Seite." Schon auf dem Gare du Nord in Paris, auf dem er angekommen sei, habe es viel Durcheinander und Lautsprecherdurchsagen nur auf Französisch gegeben. Fazit: Frankreich lässt "die Europameisterschaft scheitern".

Ein Philosoph, der sich seit Langem mit dem Nationalbewusstsein seiner Landsleute befasst, sagte neulich: "Russland leidet unter mangelndem Realitätssinn", und das schon immer. Vor allem aber sei es nicht in der Lage, die Gründe des eigenen Elends zu analysieren: "Russen suchen Fehler immer bei anderen, nie bei sich selbst." Wohlgemerkt: Das hat ein Russe gesagt!

Die "Fanatiki" sind gefährlich

Die Probleme mit den Fußballschlachtenbummlern in Russland sind seit Jahren bekannt, die "Fanaty" sind kreuzgefährlich. Unternommen wurde gegen sie bisher: nichts. In Großbritannien ist man da weiter. Man mag das als inneres Problem Russlands betrachten. Fahren diese Hooligans jedoch ins Ausland, ist das eine andere Sache. Denn die russischen Medien haben Patriotismus und Nationalismus seit der Krim-Annexion derart angeheizt, dass sich die Schlichteren unter den Russen im Ausland zu Muskelspielen geradezu ermuntert fühlen. Sie sehen sich als Speerspitze eines Landes, das sich wieder groß und überlegen fühlt. Es sind Leute mit einer besonderen Psyche, die für die Ihren eintreten, Fremde aber schlagen.

Und warum der Ärger, da hätten frustrierte Engländer zum Schluss des Spiels in Marseille gepfiffen? Bei der vorletzten Eishockey-WM verließ die russische Nationalmannschaft während der Siegerehrung für die Kanadier demonstrativ das Eis - weil sie die Niederlage nicht ertragen mochte.

Tröstend ist: Es gibt einen russischen Sportkommentator, der heute nach vorne blickt. Er schreibt, dass die Uefa-Strafe ein Warnschuss sei - über die EM hinaus. Dass die russischen "Debilen" sich bis zur WM 2018 in Russland nicht in Luft auflösen würden. Dass "wir auf einer maximalen Verschärfung der Gesetze bestehen müssen", damit die Randalierer endlich das bekommen, was sie verdienen. "Ohne Rücksicht auf ihre Verbindungen und ihren Rückhalt" in höheren Sphären.

Im Video: "Neonazi-Szene spielt eine große Rolle"

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