Auftakt der Europawahlen Britische Wähler holen aus zur großen Ohrfeige

Zuerst stimmen jene ab, die gar nicht mehr dabei sein wollen: Bei der Europawahl in Großbritannien droht den etablierten Parteien ein Debakel - und Premierministerin May der entscheidende Schlag.
Premierministerin Theresa May wird sich wohl nicht mehr lange im Amt halten können - britische Medien melden, sie wolle am Freitag ihren Rücktritt ankündigen

Premierministerin Theresa May wird sich wohl nicht mehr lange im Amt halten können - britische Medien melden, sie wolle am Freitag ihren Rücktritt ankündigen

Foto: Toby Melville/ REUTERS

Eigentlich hätte es diese Wahl im Vereinigten Königreich nie geben sollen. Eigentlich wollten die Briten längst raus sein aus der EU, befreit von der Union, würden manche auf der Insel vielleicht sagen. Eigentlich. Denn aus dem Brexit wurde bekanntlich bislang nichts.

An diesem Donnerstag entscheiden die Briten, welche 73 Abgeordneten sie ins nächste EU-Parlament schicken. Seit dem Morgen sind die Wahllokale geöffnet. Gemeinsam mit den Niederlanden machen sie damit den Auftakt zur Europawahl - ausgerechnet.

Für Großbritannien, das ist klar, ist es eine Wahl unter ganz besonderen Voraussetzungen. Ihre Folgen aber können gravierend sein - und die Politik im Königreich nachhaltig verändern. Die Hintergründe.

Brexit-Chaos und eine Regierung in Auflösung: Die Ausgangslage

Vorsichtig formuliert: Die Wahl kommt für die Regierung zur Unzeit. Im Grunde seit Beginn der Brexit-Verhandlungen sind die Tories von Theresa May - ähnlich wie die Labour-Opposition - tief gespalten: Hardliner, Moderate und Proeuropäer ringen um den Kurs. Verzweifelt hatte die Premierministerin immer wieder versucht, ihren Austrittsdeal mit Brüssel durchs Parlament zu bringen - vergeblich.

Premierministerin Theresa May

Premierministerin Theresa May

Foto: ZUMA Press/ imago images

Am Dienstag startete May eine wohl letzte Offensive: Sie kündigte einen erneuten Anlauf an und stellte der Opposition zugleich ein zweites Referendum in Aussicht. Dieses Manöver aber, so scheint es, kostete May wohl den letzten Rest ihrer Autorität in den eigenen Reihen.

Hinter den Kulissen wollen ihre Widersacher May nun zum schnellen Rückzug drängen. Andrea Leadsom, die für die Tories die Geschäfte im Unterhaus führte, warf am Mittwochabend hin. Ihr öffentlichkeitswirksamer Abgang ist ein schwerer Schlag für die Premierministerin. Leadsom gilt als potenzielle May-Nachfolgerin.

Katastrophe für die Etablierten, Triumph der Kleinen? Die Umfragen

Der Brexit ist das alles dominierende Thema in Großbritannien. Doch die beiden großen Parteien konnten sich nie zu einer klaren Haltung in dieser historischen Frage durchringen. Ihnen droht nun ein Debakel. In einer jüngsten YouGov-Umfrage liegen Mays Tories nur noch bei sieben Prozent - Kleinparteienniveau. Zum Vergleich: Bei der vergangenen Nationalwahl holten die Konservativen mehr als 42 Prozent. Bei der EU-Abstimmung 2014 waren es immerhin gut 23 Prozent - obwohl zu jener Zeit die Populisten den Ton angaben.

Eine Protestwahl ist auch diesmal zu erwarten, doch die Auswirkungen für die Etablierten dürften viel dramatischer werden. Auch Labour steht vor dem Absturz. Laut Umfrage stand die Partei von Jeremy Corbyn zuletzt nur noch bei 13 Prozent.

Es profitieren dagegen jene Kräfte, die beim Brexit eine klare Linie verfolgen. Die Liberaldemokraten etwa, die es geschafft haben, noch vor den Grünen und der neuen Change-Partei, als Stimme der Proeuropäer wahrgenommen zu werden. Wahlspruch: "Stop Brexit". Die Lib Dems kratzen an der 20-Prozent-Marke.

Noch erfolgreicher sind die Rechtspopulisten. Nigel Farage, einst Frontmann der Extremisten von Ukip, ist vor einigen Monaten mit einer Truppe an den Start gegangen, die ihr Programm im Namen trägt: "Brexit-Partei". Farage und seinen Leuten geht es um einen kompromisslosen EU-Austritt. Die einfache Antwort kommt an. Laut YouGov liegt die "Brexit-Partei" klar auf Rang eins. AfD-Chef Jörg Meuthen wirbt bereits um Zusammenarbeit mit Farages Truppe im Parlament.

May-Rücktritt und Risse im System? Mögliche Folgen der Wahl

Stürzen die Tories wie erwartet ab, dürfte das der entscheidende Schlag für die Premierministerin sein. Jedoch geht es bei der Frage, wann May ihren Rücktritt ankündigt, wohl ohnehin nur noch um Tage. Das Ergebnis der EU-Wahl wird allerdings erst am Sonntagabend, um 23 Uhr, bekannt gegeben.

Gut möglich, dass May so lange nicht mehr dem Druck standhalten kann. Bereits am Freitag trifft sie sich mit Graham Brady, Chef des wichtigen 1922-Komitees in der Tory-Partei. In London wird spekuliert, dass May bereits bei dieser Gelegenheit den Zeitplan für ihren Abgang erklären muss.

Doch selbst wenn der Kampf um Mays Nachfolge noch vor Veröffentlichung der Wahlergebnisse eröffnet wird: Diese EU-Wahl dürfte trotzdem nicht folgenlos bleiben. Ein Triumph der Brexit-Partei könnte die Rufe bei den Tories nach einem Hardliner an der Spitze leichter machen - etwa nach einem Mann wie Ex-Außenminister Boris Johnson. Labour wiederum muss sich vor allem wegen der absehbaren Verluste an die Liberalen Sorgen machen. Droht Großbritannien eine noch stärkere Polarisierung? Möglich.

Video: Farage hat leichtes Spiel

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Dazu kommt noch eine weitere Frage: Kann diese Wahl das britische Zwei-Parteien-System ins Wanken bringen? Schon länger schwindet die Parteienbindung im Königreich. Entscheidend wird sein, ob die Differenzen beim Brexit nachhaltig die Identität von Tories und Labour definieren.

Durchmarsch der Populisten? So geht es in Europa weiter

Insgesamt wird in Europa an vier Tagen gewählt. Irland und Tschechien folgen am Freitag, einige weitere Länder wählen am Samstag, Deutschland und der Rest am Sonntag.

Nicht nur in Großbritannien, auch anderswo sind die Populisten auf dem Vormarsch. In den Niederlanden peilt Thierry Baudet mit seinem rechten Forum für Demokratie ein Referendum über die niederländische EU-Mitgliedschaft an - ganz nach britischem Vorbild.

In Italien dominiert die rechtsnationale Lega von Matteo Salvini, in Frankreich steht die Partei Rassemblement National von Marine Le Pen vor dem Wahlsieg. In Österreich wiederum muss die FPÖ nach dem Skandal um Heinz-Christian Strache mit einem deutlich schlechteren Ergebnis rechnen als zunächst erwartet.

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