
Nigel Farage und seine Ukip: Partei der Verzagten
Britischer Europa-Wahlkampf Das verängstigte Königreich
Es ist mir sehr lange nicht aufgefallen, aber England ist der heimliche Weltmeister im Warnen vor Gefahren, die keine sind. Jeder Tourist aus Neu-Ulm oder Tokio kennt den nervösen Hinweis in der Londoner U-Bahn, auf den Spalt zwischen Bahnsteigkante und Zugtür achtzugeben: "Mind the gap!" Seit kurzem aber erreicht der Zwang der Briten, noch auf kleinste Risiken hinzuweisen, ungekannte Höhen.
Zuletzt wurde mir das am Osterwochenende bewusst, am Flughafen von Gatwick. Im Shuttle vom Terminal zum Bahnhof warnte ein Lautsprecher die Passagiere, sie sollten sich festhalten, da der Wagen gleich losfahre. Wenig später rief mir eine Rolltreppe zu, dass sie gleich zu Ende sei - also Vorsicht! Der Zug wiederum bat mich mehrfach eindringlich, die Plakate mit den Sicherheitshinweisen zu beachten.
Man kann keinen Schritt mehr über die Insel tun, ohne von Schildern, Durchsagen oder übereifrigem Personal daran erinnert zu werden, wie riskant das Leben ist. Es sieht aus, als sei Großbritannien ein verdruckstes Land geworden, das immer besessener versucht, auch noch die winzigste, lächerlichste Wahrscheinlichkeit eines Missgeschicks zu eliminieren.
Ich lebe hier seit anderthalb Jahren, mittlerweile habe ich das Gefühl, dass die Ämter und Behörden ihre Bürger am liebsten in Luftpolsterfolie einwickeln würden, sobald sie hinaus ins Freie treten.
Die Angstmacher von der Ukip
Es ist deshalb bitter, aber nicht überraschend, dass wenige Wochen vor der Europawahl eine Partei Zuwachs bekommt, die mit der neuen Ängstlichkeit der Briten so gut spielt wie keine andere politische Gruppierung. Die Partei heißt Ukip oder UK Independence Party, ihr Vorsitzender Nigel Farage hat gerade die Plakate für den Wahlkampf vorgestellt. Auf einem der Plakate sitzt ein britischer Arbeiter im Schneidersitz auf dem Gehweg, vor sich einen Plastikbecher mit etwas Kleingeld. Die Botschaft lautet: Wenn wir nicht aufpassen, nehmen uns Billiglöhner aus den Armenhäusern im Süden und Osten Europas die Arbeitsplätze weg. Andere Plakate warnen vor dem wachsenden Einfluss der EU und vor Brüsseler Bürokraten, deren "Promi-Lifestyle" vom britischen Steuerzahler mitfinanziert werde.
Wenn die Umfragen recht behalten, kommt Ukip am 22. Mai hinter Labour auf den zweiten Platz, möglicherweise gewinnt Farages Truppe die Wahl sogar. Es wäre ein Sieg der Angst über die Vernunft, der endgültige Triumph der Panik. Farage kämpft seit Jahren dafür, dass sich England aus Europa zurückzieht, er argumentiert gegen militärische oder humanitäre Interventionen und für die Kürzung der Entwicklungshilfe.
Natürlich ist Ukip nicht so radikal wie der Front National in Frankreich, Nigel Farage ist nicht Marine Le Pen. Die Partei ist ein Sammelbecken weniger der Wütenden als vielmehr der Verzagten auf der Insel, die aus Furcht vor der komplexen Wirklichkeit ihre Haustür verrammeln. Ukip ist die Partei von Little England, im Grunde eine traurige Bewegung.
Phantomschmerz der verlorenen Macht
Neulich traf ich Linda Colley in London auf eine Tasse Tee, eine britische Historikerin, die inzwischen in Princeton lehrt. Colley war gerade in der Stadt, um ihre Familie zu besuchen und ihr neues Buch "Acts of Union" zu bewerben, eine historische Bestandsaufnahme der britischen Identität. Das Erfrischende an ihr ist, dass sie mit der Schärfe einer Emigrantin auf ihre alte Heimat blickt.
Colley sagt, man müsse vor allem zwischen Engländern, Schotten, Walisern und Nordiren unterscheiden. Die Angst vor dem Fremden sei vor allem bei den Engländern groß, und zwar auch deshalb, weil sich in den vergangenen Jahren die Machtverhältnisse weg vom Zentrum, hin zu den Teilstaaten des Königreichs verschoben hätten.
Seit Ende der neunziger Jahre gewinnen die Parlamente in Schottland, Nordirland und Wales immer mehr an Einfluss. "England wurde dabei vergessen", sagt Colley. Sie schlägt deshalb ein Parlament für Engländer vor, für den Rumpf des Königreichs, zusätzlich zu dem Unter- und Oberhaus in Westminster. Vielleicht könnte dadurch der Schmerz über den Machtverlust gemindert werden, sagt sie. "Und wer weiß, womöglich verschwindet dann auch die feindliche Rhetorik gegen Einwanderer."
Großbritannien ist eine Nation, die sich vor sich selbst fürchtet. Die Bindungskräfte zwischen der Insel und Europa werden schwächer, vielleicht spielt Gleichgültigkeit eine Rolle. Colley sagt, im 20. Jahrhundert hätten britische Politiker neben Englisch oft mehrere europäische Fremdsprachen beherrscht. "Das ist heute seltener der Fall." Es war ein kleines, aber peinliches Versehen, als Premier David Cameron vor einiger Zeit Schwierigkeiten hatte, den Begriff "Magna Charta" aus dem Lateinischen zu übersetzen, immerhin die Gründungsurkunde der modernen Demokratie.
Wenn ich derzeit an England denke, habe ich zwei Bilder im Kopf: Nigel Farage und Prinz William. Während Farage seinen Landsleuten erklärt, warum Einwanderung schlecht ist, reist William mit Herzogin Kate und dem gemeinsamen Baby gutgelaunt durch das frühere Kolonialgebiet auf der Südhalbkugel. Vielleicht ist es gar nicht so schwer, wie man denken würde, diese beiden Bilder zusammenzubringen.