Ex-KZ-Häftlinge in der Ukraine Überleben nach dem Überleben
Lviv - Es ist dämmrig geworden. Draußen auf der Straße schalten die Fahrer die Scheinwerfer ihrer Autos ein. Durch das Fenster fallen die letzten Sonnenstrahlen, tauchen Wände, das durchgesessene Sofa, den groben Bretterboden, den Tisch und die drei Stühle in ein mildes Licht.
Auf einem der Stühle sitzt Onufriy Dudok. Leicht gebeugt. Mit den Armen stützt er sich auf die Tischplatte. Groß, hager, mit hervorstechenden Wangenknochen und kurzen schlohweißen Haaren. 166557 steht auf einem Unterarm. In einem dunklen Blau, eintätowiert in die Haut. "Im Steinbruch muss man mit den Augen arbeiten. Sonst gibt es keine Chance zu überleben", sagt Onufriy Dudok. Mit den Augen arbeiten? "Ja, mit den Augen. Immer um sich sehen. Egal, wie schwach man ist, die Augen müssen flink bleiben. Dreht einem der SS-Wächter den Rücken zu, sofort mit dem Arbeiten aufhören. Kräfte sparen. Aber man muss vorsichtig sein. Merkt es der SS-Mann, lässt er den Hund los. Die Wachhunde beißen in die Genitalien. Die Hunde sind abgerichtet", erklärt der 82-Jährige.
Im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau war er Häftling Nummer 166557. Onufriy Dudok hat auch die Lager Flossenbürg und Mauthausen überlebt. Weil er schnell lernt, mit den Augen zu arbeiten. Weil er genau weiß, dass die Steine, die er schleppt, nicht zu groß und nicht zu klein sein dürfen. Sein Augenmaß entscheidet über sein Leben. Ist der Stein nicht groß genug, zwingt ihn der SS-Mann, einen zusätzlichen zu schleppen. Ist er zu groß, kann sein Gewicht tödlich viel wiegen. Beides raubt einem ausgemergelten Körper zu viel Kraft. Wer zu schwach ist, muss sterben, wird im Krematorium zu Asche verbrannt.
Das alles erzählt Onufriy Dudok. Wie er als 17-Jähriger aus der Ukraine als Zwangsarbeiter verschleppt wird. Wie er in Nürnberg nach seiner Ankunft in einem Sammellager für "Ostarbeiter" wenigstens einen Brief an seine Familie schicken will. Ohne Papiere vor der Post aufgegriffen wird und dafür im Konzentrationslager landet. Am Ende der Geschichte angelangt, steht er auf, den Rücken nach vorne gebeugt, den Blick auf den groben Holzboden seiner ärmlichen Wohnung gerichtet. Er ist für einen kurzen Moment wieder zurück in der Hölle. Steht an einem Wintertag vor vielen Jahren beim täglichen Appell. In der dünnen Häftlingsjacke bei schneidenden Minusgraden. Mit nur einer Frage im Kopf: "Überlebe ich den heutigen Tag?" Onufriy Dudok hat Tränen in den Augen. "Heute Nacht werde ich nicht schlafen können", sagt er zum Abschied.
Heizung ist ein Luxus - Licht auch
In der Wohnung ist es mittlerweile düster, Dudok schaltet das Licht an. Als sich die Tür hinter dem Besuch schließt, dreht er den Lichtschalter wieder um. Unten von der Straße aus sieht man seine Fenster in der Wohnkaserne aus Sowjetzeiten. Sie sind dunkel. Der alte Mann muss Strom sparen.
Onufriy Dudok hat überlebt. Geblieben sind die Alpträume, die so wenig weichen wie die Tätowierung auf seiner Haut. Und die Frage, ob sein Leben immer nur harte Zeiten für ihn bereithält.
Heute lebt Dudok in äußerster Bescheidenheit. 75 Euro staatliche Rente erhält er monatlich. 14 Euro zahlt er mittlerweile für Strom und Erdgas. Der Rest reicht kaum zum Leben. Wer Onufriy Dudok im Winter besucht, sollte seine Jacke anbehalten oder einen dicken Pullover tragen. Durch alte Fensterrahmen zieht dann zwischen Glas und Holz ein kalter Wind hindurch. Seitdem die Kosten für die russischen Gaslieferungen an die Weltmarktpreise angenähert wurden, kann er es sich selten leisten, die Heizung aufzudrehen.
Eine Fahrt in die Vergangenheit
Am nächsten Tag unternimmt er eine Fahrt in die Innenstadt. "Zu einem Treffen mit anderen Kameraden und Freunden", sagt der KZ-Überlebende. Für Onufriy Dudok wird es ein anstrengender Ausflug. Der alte Mann ist froh, als er einen Platz in dem überfüllten Bus findet. Das rostige Ungetüm ächzt über die vierspurigen Straßen der Außenbezirke. Links und rechts reihen sich farblose Wohnblöcke aneinander.
Es geht vorbei an mächtigen Werbeplakaten. An Golfern, die - vier Meter groß - für Zigaretten werben. An Plakaten, auf die die Träume der Jugend gedruckt sind: schnittige Kleinwagen aus Fernost, angesagte Modemarken aus dem Westen. Zeugnis eines Wirtschaftswachstums, das 2007 satte 7,3 Prozent betrug. Dudok blickt aus dem Busfenster. Draußen suchen alte Menschen in Mülltonnen nach Essbarem.
Nach 35 Minuten Fahrzeit steigt Onufriy Dudok aus. Vor ihm stehen stolze Bürgerhäuser der verblichenen Donaumonarchie und eine alte Bäuerin mit einem bunten Kopftuch. Die Frau streckt ihm Gemüse entgegen. "Väterchen, bei mir kriegst du die Gurken billiger als im Laden", verspricht sie, reibt das Gemüse an ihrem Kittel sauber. Ihre Kleidung ist ausgeblichen und muss früher einmal rot gewesen sein.
Dudok schüttelt den Kopf. Er ist heute nicht zum Einkaufen in die Stadt gefahren. Hinter der Bäuerin stehen zwei weitere Alte, bieten Pilze und Beeren an. Ein kärglicher Nebenverdienst, der für viele Rentner überlebenswichtig ist.
"Die Preise steigen und steigen"
Dudok kauft lieber bei ihnen als in den neuen Supermärkten und in den Lebensmittelgeschäften. Dort leuchten die bunten Verpackungen, die Regale sind üppig gefüllt. Manchmal, da kann Onufriy Dudok gar nicht begreifen, wie sehr sich seine Welt verändert hat. Sein Leben, das ihm die Konzentrationslager der Nazis, die Furcht des Stalinismus und den allgegenwärtigen Mangel des Kommunismus gebracht hat. Heute liegen in den Ladentheken kiloweise Würste aus, die er sich nur selten leisten kann. Umgerechnet zwei Euro kann der ehemalige Elektromonteur am Tag von seiner staatlichen Rente für Essen, Kleidung und Medikamente ausgeben. Der KZ-Überlebende zehrt noch von seiner Entschädigung aus Deutschland: 15.000 Mark. Doch der Geldbetrag schmilzt dahin. "Die Preise steigen und steigen", stöhnt Dudok. 2007 betrug die Inflationsrate in der Ukraine 16,6 Prozent.
In der Lepkoho-Straße angekommen, läuft er über altes Kopfsteinpflaster. Viele sind schon darüber marschiert: Soldaten der österreichischen Donaumonarchie, polnische Militärs, Rotarmisten und deutsche Landser. Lviv, oder Lemberg, hatte im Lauf der Jahrhunderte viele Herren in den verschiedensten Uniformen.
Ein blaues Schild verkündet neben einem Hauseingang, dass hier das "Medico Soziale Zentrum" (MSZ) des Ukrainischen Roten Kreuzes für "Opfer des Faschismus und Stalinismus" zu finden ist: Onufriy Dudoks Ziel. Das Gebäude hat alle Wenden, Kriege und Revolutionen überstanden. An der einen oder anderen Ecke bröckelt ergrauter Putz. Doch im Erdgeschoss sind die hohen Zimmerwände in hellem Gelb frisch gestrichen: das einfache Behandlungszimmer mit dem großen Paravent, der Clubraum, die kleine Küche und das Büro von Direktorin Nina Dobrenka.
Es riecht nach frischem Kaffee. Aus dem kleinen Saal ertönt Gelächter. Dann kommt Dudok schon Nina Dobrenka entgegen. Eine leicht rundliche, blonde Frau, die vom Alter her seine Tochter sein könnte. "Mein lieber, guter Onufriy Dudok. Willkommen!" sagt sie, und der 82-Jährige findet sich an der langen Kaffeetafel mit einem Stück Torte auf dem Teller wieder.
"Wenn nur nicht immer das Geld fehlen würde..."
Petro Bilokon nickt Dudok kurz und freundlich zu. Der 87-Jährige hat die Torturen in den Lagern Groß Rosen und Dora überlebt. Bilokon erzählt stolz, wie er seine Wohnung renoviert hat: "Den Holzboden habe ich abgeschliffen. Der glänzt wieder wie neu. Handwerker können sich doch nur die Kapitalisten leisten, aber sicher nicht wir Rentner." Für die Kaffeetafel hat sich der Überlebende des KZ Ravensbrück herausgeputzt. Die kleinen Feiern sind für alle der rund 20 anwesenden Senioren immer etwas Besonderes.
Rund 300 Opfer der Nationalsozialisten und Stalinisten betreut des Zentrum. "Es ist wichtig, dass die alten Menschen eine Anlaufstelle haben. Viele konnten wegen der Torturen, den Sterilisationen, in den Konzentrationslagern später keine Familien gründen. Jetzt fehlen Kinder und Enkel, die sie unterstützen", sagt Nina Dobrenka. Auch Onufriy Dudoks hat keine Nachkommen.
Familie kann das MSZ nicht ersetzen, aber die gröbste Not lindern. Die pensionierte Krankenschwester Taisija Hontscharowa gibt kostenlos gespendete Medikamente aus. Untersucht die Patienten, macht in Lviv und in umliegenden Gemeinden Hausbesuche. Über 2500 medizinische Hilfen gibt das MSZ pro Jahr. Finanziell unterstützt wird das MSZ seit über einem Jahrzehnt vom Deutschen Roten Kreuz, Landesverband Baden.
Doch die Mittel werden langsam knapp. "Wenn nur nicht immer das Geld fehlen würde. Und jetzt sind auch noch Gas und Strom so teuer geworden. Das ist ein ernsthaftes Problem für uns. Wir müssen jede Kopeke sparen", seufzt Nina Dobrenka. Dabei würde sie gerne die Arbeit des MSZ ausweiten. Ein mobiler Hilfsdienst schwebt ihr vor, der sich verstärkt um die pflegebedürftigen Patienten kümmert. Aber auch Handwerker, die dringend notwendige Reparaturen in den Wohnungen der Senioren vornehmen. Dass sich jemand um seine zugigen Fenster kümmert, darüber würde sich sicherlich auch Onufriy Dudok freuen.
Die Kaffeerunde im Clubraum löst sich auf. Vier, fünf Frauen singen noch gemeinsam ein altes Volkslied. Die Männer umarmen sich kurz. Zum Abschied wird Dudok ernst. "Im KZ hat uns der Kommandant gesagt: Ihr seid nicht zum Leben hier, sondern zum Sterben. Er hat sich geirrt. Ich habe überlebt. Weil ich mehr bin als die Nummer, die mir die SS in Auschwitz in die Haut tätowieren ließ", sagt er.
Dann macht er sich auf den Rückweg. Zur Haltestelle, vorbei an den alten Bauersfrauen, die noch weniger haben als er. Es dämmert bereits, und er wird trotzdem zu Hause sein Licht nicht einschalten, bevor es endgültig finster geworden ist. Die Nummer auf seiner Haut ist dann fast nicht mehr zu sehen. 166557, in blau tätowiert. Onufriy Dudok war stärker als die Nummer. Darauf ist er stolz. Und nichts kann ihm das nehmen.
Anmerkung der Redaktion aufgrund zahlreicher Anfragen unserer Leser:
Falls Sie für das Hilfsprojekt "Opfer des Faschismus und Stalinismus" (Medico Soziales Zentrum des Ukrainischen Roten Kreuzes) spenden wollen, überweisen Sie bitte an:
Bank für Sozialwirtschaft
Empfänger: Deutsches Rotes Kreuz
Bankleitzahl 37020500
Konto 414141
Stichwort "Ukraine"