Debatte um China-Politik Fall Chen drängt Wahlkämpfer Obama in die Defensive

Demonstranten vor dem Weißen Haus: Fall Chen brisant für den Wahlkämpfer Obama
Foto: YURI GRIPAS/ REUTERSEs ist ein wildes Hin und Her um den Bürgerrechtler Chen Guangcheng: Da flieht der blinde chinesischer Menschenrechtsanwalt aus dem Hausarrest in die Pekinger US-Botschaft. Er will kein politisches Asyl, sondern weiter in China leben. Es gibt einen Deal mit den Machthabern, der Dissident verlässt nach sechs Tagen die Botschaft. Kurz darauf ist alles anders, der Mann will nun doch in die USA ausreisen. Ein neuer Deal wird gemacht, ein Studium in New York steht in Aussicht, die Ausreise von Chen und seiner Familie scheint möglich. Ganz wasserdicht allerdings ist auch das noch nicht.
Der Fall erregt in den USA großes Aufsehen - und bringt die Regierung von Präsident Barack Obama unter Erklärungsdruck: Was ist da geschehen? Warum diese verwirrenden Abläufe? Haben die USA zu defensiv verhandelt? Weil Amerika mitten im Präsidentschaftswahlkampf steckt, ist der Fall Chen mit politischer Brisanz geladen. Zwei Deutungen konkurrieren miteinander:
- Variante A zufolge, der Interpretation von Team Obama, ist letztlich alles gut gegangen. Ein möglicherweise monatelanges, die Beziehungen mit China belastendes Drama um einen Flüchtling in der US-Botschaft ist abgewendet und Chen kann nun in die USA ausreisen. China ist keineswegs düpiert, da der Bürgerrechtler nicht etwa flieht, sondern offiziell zum Studium ins Ausland gehen soll. Außenministerin Hillary Clinton, die just in dieser Woche gemeinsam mit Finanzminister Timothy Geithner zu Strategie- und Wirtschaftsgesprächen in China weilte, konnte am Freitag bei einem Treffen mit Präsident Hu Jintao erklären, die chinesisch-amerikanischen Beziehungen seien "stärker, als sie es je waren".
- Variante B wird von den Republikanern und ihrem absehbaren Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney vertreten. Der Regierung Obama wirft man Schwäche vor. So sei schon der erste Deal mit den Chinesen mies verhandelt gewesen. Tatsächlich hatten sich die US-Diplomaten offenbar nicht garantieren lassen, dass sie auch nach Chens Verlassen der Botschaft Kontakt zu ihm halten können. Chen selbst bemerkte gegenüber US-Medien, er habe die Botschaft nur unter dem Druck der Behörden in Peking verlassen, er fühle sich von den USA "im Stich gelassen" und fürchte um sein Leben. Wenn all das wahr sei, so Romney später, dann sei dies "ein dunkler Tag für die Freiheit und ein Tag der Schande für die Obama-Regierung".
Der Fall Chen kommt Romney gerade recht
Der Fall Chen ist eine Vorlage, die die Republikaner zu nutzen gedenken. Gerade weil Obama seinem republikanischen Rivalen auf dem Feld der Außenpolitik schon enteilt schien. Selten war das in Washington deutlicher zu spüren als in den letzten Tagen: Rund um den Jahrestag der Erschießung Osama Bin Ladens ließ Obama ein politisches Feuerwerk zünden.
Da bezweifelte Vizepräsident Joe Biden in einer Rede, dass Romney den Top-Terroristen ähnlich entschlossen zur Strecke gebracht hätte; Obama legte dies ebenfalls nahe, ohne aber Romneys Namen zu nennen; Bill Clinton lobte in einem Wahlspot den Mut Obamas. Und dann reiste Obama auch noch überraschend als Bin-Laden-Bezwinger nach Afghanistan, stellte in einer Fernsehansprache das Ende des Jahrzehnts der Kriege in Aussicht.
Romney muss sich mächtig geärgert haben.
Der Fall Chen kommt da gerade Recht: Er kratzt am Image des erfolgreichen Außenpolitikers Obama und er gibt Romney die Möglichkeit, sich als unerbittlicher Verfechter von Freiheit und Menschenrechten zu inszenieren. Die Botschaft: Wo der andere interessengeleitete Politik macht, stehe ich zu unseren Werten.
Entsprechend pathetisch feiert er den blinden Chen, der gegen Zwangsabtreibungen gekämpft hat. Der Mann habe "Freiheit gesucht in einer Bastion der Freiheit, in einer Botschaft der Vereinigten Staaten von Amerika", sagte Romney am Donnerstag. Seien denn die Amerikaner nicht mehr stolz, "dass Menschen, die nach Freiheit streben, in unsere Botschaft kommen, um diese Freiheit zu erreichen?"
Der Republikaner gibt den kompromisslosen Wertepolitiker. Obama dagegen wird als außenpolitischer Schwächling gezeichnet, der weder Iran entschlossen die Stirn zu bieten vermag, noch jetzt den roten Fürsten von Peking. Schon während des harten Kampfs um die republikanische Präsidentschaftskandidatur hatte sich der einst liberale Ex-Gouverneur von Massachusetts wieder und wieder mit China-Kritik hervorgetan: Romney nannte das Land mehrfach einen Währungsmanipulator und drohte mit Strafen. "Wenn wir nicht gegen China aufstehen, dann werden wir von China überrannt. Und genau das passiert seit 20 Jahren."
Obamas pragmatische China-Politik
Ist das nur Wahlkampfgeplänkel? Oder stünde den Beziehungen der Supermacht und der werdenden Supermacht unter einer Romney-Präsidentschaft eine neue politische Eiszeit bevor? Das wäre fatal, für beide Seiten. Denn die Abhängigkeit der USA von China ist groß, sie wächst Jahr um Jahr. So ist die mittlerweile zweitgrößte Volkswirtschaft der Erde zugleich der größte Kreditgeber der USA.
Wie darauf reagieren? Während Romney mit klarer Kante gegen das rote Riesenreich zu punkten sucht, hat Obamas Regierung in den vergangenen Jahren auf einen pragmatischen Ansatz gesetzt: Einerseits macht der Präsident, anders als Amtsvorgänger George W. Bush und sehr zum Missfallen von Pekings Regenten, deutlich, dass die USA künftig einen strategischen Schwerpunkt auf Asien und die US-Verbündeten dort legen und weiterhin eine Führungsrolle in dieser Region zu spielen gedenken; andererseits müht sich Obama, China entsprechend seiner gewachsenen Macht als verantwortlichen Mitspieler im globalen Konzert zu fordern.
Gleichzeitig demonstrierte der US-Präsident im vergangenen Jahr Unnachgiebigkeit, bat den Dalai Lama, das religiöse Oberhaupt der Tibeter, ins Weiße Haus und ließ Taiwan weitere Waffen liefern. China war zwar vorab informiert und gewarnt, fasste die Vorgänge trotzdem als Affront auf - und verurteilte sie schärfer als erwartet.
Warum? In dem gerade von der renommierten Brookings Institution in Washington veröffentlichten Band "Barack Obamas Außenpolitik" bemerken die Autoren um Brookings-Vizepräsident Martin S. Indyk, dass die Amerikaner eigentlich glaubten, Peking eine "faire Warnung" gegeben zu haben. "Aber China reagierte mit Erklärungen, dass diese Aktionen auf der neuen Basis US-chinesischer Beziehungen nicht länger akzeptabel seien." Diese neue "Basis", so erklären es Indyk und Co., bedeute aus chinesischer Sicht und mit Blick auf die Krise der amerikanischen Wirtschaft nichts anderes als: "Amerikas neue Schwäche und Chinas neue Stärke."
Es wird nicht das letzte Gerangel zwischen den beiden Mächten gewesen seien. So gesehen ist im Fall Chen bisher tatsächlich alles ganz gut gelaufen.