Familie in Frankreich Wo man sich Hausfrauen nicht leisten kann
Paris - Jeden Montagmorgen um 5 Uhr verflucht Jérôme Arras seinen Wecker. Der reißt den Pariser Finanzexperten so früh aus dem Schlaf, weil der 40-Jährige am Wochenanfang mit dem Hochgeschwindigkeitszug TGV ins knapp 400 Kilometer entfernte Nantes im Westen des Landes zur Arbeit fährt. "Vier Tage jede Woche arbeite ich dort, zum Glück sorgt die Firma für meine Unterkunft", sagt Jérôme. Doch beklagen würde sich der schon etwas kahle, hochaufgeschossene Mann nie. "Meine alte Firma hier in Paris ging den Bach 'runter, da war ich froh, als ich von einem Cousin ein Angebot für den Job in Nantes bekam." Umso mehr, als Jérôme und seine Frau Béatrice eine dreijährige Tochter haben und die Geburt einer kleinen Schwester unmittelbar bevorsteht.
Vor sechs Jahren, als die Immobilienpreise in der Pariser Innenstadt noch nicht völlig ins Kraut geschossen waren, hatte das Ehepaar eine 120-Quadratmeter-Wohnung in der Rue Pigalle im 9. Arrondissement gekauft. Kein besonders schicker Stadtteil, doch die Altbauwohnung im fünften Stock ist geräumig, hat einen herrlich begrünten Balkon - und drei Schlafzimmer. In der Metropole Paris, wo der mickrigste Quadratmeter unterm Dach für Tausende Euro verhökert werden kann, ist das eine gehörige Portion Luxus, die mit viel Geduld abbezahlt werden muss.
Kein Wunder also, dass auch Béatrice Arras voll berufstätig ist. Wenn ihr Baby in diesen Tagen zur Welt kommt, wird sie drei Monate zu Hause bleiben und dann zu ihrem Arbeitsplatz zurückkehren. "Länger könnte ich nicht wegbleiben, dann hätte ich viel zu große Sorge um meinen Posten", sagt die Personalberaterin, deren Gehalt am Ende des Monats von leistungsabhängigen Prämien bestimmt wird. "Aber für mich war von Anfang an klar, dass ich zwar Kinder haben will, aber niemals aufhören werde zu arbeiten", sagt die 33-Jährige: "Das hat mir schon meine Mutter eingebläut, man muss sich im Leben immer auf sich selbst verlassen können."
Was in Deutschland noch heute vielerorts auf Unverständnis stößt, ist in Frankreich völlig normal. Rund 80 Prozent der Frauen im Alter zwischen 30 und 54 sind berufstätig - zugleich hat das Land die zweithöchste Geburtenrate der Europäischen Union. Mit 1,9 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter werden die Französinnen nur noch von den irischen Frauen mit zwei Kindern übertroffen. Deutschland liegt statistisch gesehen bei 1,3 Kindern, der EU-Durchschnitt bei 1,4.
Doppelverdiener mit Kindergarten und Kinderfrau
Béatrice Arras hat Glück, dass sie so gerne arbeiten geht. Auch wenn es nicht so wäre, hätte sie kaum eine Wahl: Als Familie mit nur einem Gehalt zu leben ist in der französischen Hauptstadt praktisch unmöglich. "Dann könnten wir allein schon die Wohnung gar nicht abbezahlen", sagt Jérôme. Er verdient als Chefbuchhalter 4300 Euro netto, seine Frau bringt 2300 netto nach Hause. "Finanziell sind wir nicht unglücklich", sagt Béatrice - allerdings hat noch keiner von beiden ausgerechnet, wieviel unter dem Strich von dem zweiten Gehalt übrig bleibt.
"Ich glaube das wollen wir lieber nicht wissen", meint Jérôme, während seine Frau ihn fragend anblickt. Denn die Kinderbetreuung kommt sie allein schon für Tochter Jeanne teuer zu stehen - wenn das Baby da ist, wird das Budget noch mehr belastet. Mit drei Jahren hat die Kleine zwar Anrecht auf einen kostenlosen Platz im staatlichen Kindergarten, doch die Stadtteilschule "hat einen sehr schlechten Ruf", so Béatrice. "Da wir ohnehin praktizierende Katholiken sind, haben wir eine Privatschule in kirchlicher Trägerschaft ausgesucht." Und die kostet an die 2000 Euro im Jahr an Schulgeld, Kantine und Hortkosten.
Doch damit nicht genug: Die Kinder werden dort bis 17.30 Uhr gehütet. Das scheint im Vergleich zu Deutschland, wo Ganztagskitas immer noch die Ausnahme sind, außerordentlich lange. Doch es ist viel zu früh für die meisten Pariser Angestellten, um ihre Kinder selber abzuholen. Also muss obendrein noch eine Kinderfrau her, die die Tochter abholt und sie bis zur Heimkehr der Mutter um 19.30 Uhr betreut.
Die Wahl einer Privatschule ist keineswegs eine Grille der Familie Arras. Nach Jahren von Streikwellen und ständigen Berichten über Gewalt und Versagen in den staatlichen Schulen ist das Vertrauen vieler Franzosen in die Schulen der Republik erschüttert. In Paris geht ein Drittel aller Schüler der Mittel- und Oberstufen auf schulgeldpflichtige Privatschulen. Der Landesdurchschnitt liegt bei 20 Prozent.
Das zweite Kind kommt erst richtig teuer
Mit dem zweiten Kind wird es dann für die Familie Arras erst richtig teuer: Erst im Juni erfahren sie, ob es ab September einen Krippenplatz für die Kleine gibt. Wenn es sich glücklich fügt und ein Platz frei ist, müssen die Doppelverdiener dort allerdings den Höchstsatz von 570 Euro monatlich bezahlen. "Wenn man dann noch bedenkt, dass wir durch das zweite Gehalt in eine andere Steuerklasse kommen - das werden wir wohl besser nie ausrechnen", grinst Jérôme. Ein paar hundert Euro werden es wohl sein, die unterm Strich übrigbleiben. Ein paar hundert Euro, die die Familie bitter nötig hat.
Sollten die Arras für ihr Baby im Herbst keinen Krippenplatz bekommen, dann müssen sie zusammen mit einer anderen Familie eine Kinderfrau suchen und eine "geteilte Betreuung" organisieren. Dann können sie nämlich erhebliche Steuererleichterungen einstreichen.
Hier liegt vielleicht einer der bedeutendsten Unterschiede zwischen dem französischen und dem deutschen System: Der französische Staat fördert mit finanziellen Anreizen ganz gezielt die Betreuung der Kinder außerhalb der Familie - und versucht nicht, die Mütter zum Zuhausebleiben zu ermutigen. Die Hälfte der Betreuungskosten durch eine qualifizierte Kinderfrau oder auch die Kosten für eine Haushaltshilfe können die Franzosen von der Steuer absetzen. Erziehungsgeld von gerade mal 520 Euro monatlich gibt es dagegen beim ersten Kind nur für sechs Monate, bei jedem weiteren bis zum dritten Geburtstag.
Aber vieles klappt nicht so, wie es klappen sollte. "Es ist unglaublich schwierig, eine qualifizierte Kinderfrau zu finden", klagt Béatrice. "Also müssen wir unsere Kinder Leuten anvertrauen, die diesen Beruf nicht gelernt haben - in unserem Fall ist es unsere Concierge, und da haben wir sogar noch Glück gehabt." Wie es während der zwei-monatigen Sommerferien wird, wenn sie zwei Kinder hat und ihre Eltern auf dem Land vielleicht zu alt sind, diese so lange zu betreuen - darüber hat sie sich noch keine Gedanken gemacht. Béatrice will trotz solcher Hindernisse irgendwann auch ein drittes Kind bekommen. "Eigentlich hätte ich sogar gerne vier Kinder, doch das wäre dann finanziell wohl wirklich nicht mehr möglich."
Familienpolitik bleibt wirkungslos
Dass die Französinnen im Vergleich zu ihren deutschen Nachbarinnen weiterhin bereit sind, so viele Kinder in die Welt zu setzen, führen manche Beobachter auf die staatliche Familienpolitik zurück, die die Rückkehr in den Beruf ermutigt. Doch viele Experten glauben mittlerweile nicht mehr an die Wirksamkeit von Familienpolitik. So ergab eine im Januar erschienene Studie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) unter dem Titel "Können Eltern es sich leisten, arbeiten zu gehen?" ausgerechnet für Frankreich mit seiner kostenlosen staatlichen Vorschule, dass vom zweiten Gehalt einer Familie angesichts der vielen Ausgaben für die Versorgung und Betreuung der Kinder relativ wenig übrig bleibt.
In ganz Europa konnte die Studie keinen direkten Zusammenhang zwischen der Familienpolitik und der Geburtenrate nachweisen. Und so glaubt die französische Demographie-Expertin France Prioux, dass die Gründe eher im Klima einer Gesellschaft zu suchen seien. Und das ist in Frankreich für berufstätige Mütter offenbar erheblich besser als in anderen Ländern.
Béatrice Arras jedenfalls ist zufrieden mit ihrem Familienleben: "Was die Zeit mit meiner Tochter betrifft, so bin ich nie frustriert. Wir sehen uns abends und am Wochenende, und das ist wunderbar."