Familien in Polen Ein Leben wie ein Kartenhaus

Polens Familien haben es schwer. Der Katholizismus und das traditionelle Rollenbild verordnet der Frau: Heim an den Herd. Als Alleinverdiener können viele Polen kaum für den Unterhalt sorgen. Die Folge: Die Geburtenrate liegt unter dem EU-Durchschnitt.
Von Mia Raben

Warschau - Ein Witz über die typisch polnische Familie geht so: Nach einem anstrengenden Arbeitstag treffen Mutter und Vater sich zu Hause. Er sitzt im Wohnzimmersessel, schaut von der Zeitung auf und ruft: "Schatz, wollten wir heute nicht ins Kino gehen?" Sie ruft aus der Küche: "Ja gern! Ich muss nur noch Essen machen, die Kinder ins Bett bringen, waschen und bügeln." Er zurück: "Und wann holst du die Karten ab?"

In den meisten Familien haben Mann und Frau beide einen Beruf, während sich nur die Frau um den Haushalt und die Kinder kümmert. Bei Basia und Adam Wagner aus Warschau hilft ein Kindermädchen aus. Auch die Großmütter kümmern sich ab und zu um die zwei Kinder Gustaw, fünf Jahre alt, und dem eineinhalbjährigen Stefan. Das Kochen muss Basia zurzeit allerdings selbst erledigen – nachts oder morgens, je nach dem wie es passt, stellt sie sich an den Herd. Die Wäsche bringt sie in die Wäscherei. Sie können es sich leisten.

Adam ist ein beschäftigter Architekt und hat seine eigene Firma. Demnächst baut er ein Hotel in Omsk ("Mit den Russen Geschäfte zu machen, ist wie Sex mit einem Tiger"). Basia lehrt Chemie an der Universität Warschau. "Unser Leben ist ein einziges Chaos", sagen beide. Ähnlich wie in vielen deutschen Familien fußt ihr Alltag auf einem komplizierten Gerüst von Verabredungen. Es ist wie ein Kartenhaus. "Wenn ein Element wegfällt, bricht alles zusammen", sagt Basia. So wie jetzt: Das ukrainische Kindermädchen hat sich in einen Fernfahrer verliebt, ihr Studium in Warschau geschmissen und ist über alle Berge.

Wer sich kein Kindermädchen leisten kann, ist fast völlig auf Familie und Freunde angewiesen. Nach der Wende wurden die staatlichen Kindergärten und Vorschulen aus der Volksrepublik in die Verwaltung der Gemeinden eingegliedert. Da diese kein Geld hatten, wurden die meisten einfach geschlossen. Private Initiativen sind wegen mangelnden Kapitals selten. Außerdem gibt es völlig veraltete Vorschriften, die Eigeninitiativen zum Scheitern verurteilen. Oder wie soll man jedem Kleinkind ein eigenes Klo garantieren?

Die verlässliche Größe bleibt die Familie

Dass die konservative Regierungpartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hier dringenden Handlungsbedarf sieht, darf bezweifelt werden. Sie ikonisiert vielmehr das traditionelle Familienbild wie die katholische Kirche. Gewünscht wird das patriarchalisch traditionelle Modell, in dem nur der Mann arbeitet, während die Ehe- und Hausfrau kocht, putzt, die Kinder erzieht und betet. Dass sich mit einem Einkommen nur schwer eine Familie ernähren lässt, scheint aus dieser Sicht keine Rolle zu spielen.

Der gesellschaftliche Frieden blieb bisher trotz des Bildungsbooms der Nachwendezeit, der vor allem bei den jungen polnischen Frauen ausgebrochen ist, größtenteils erhalten. Denn in Polen kann man sich meistens auf Familie und Freunde verlassen. Das war schon immer so. Gegenseitige Unterstützung war im Laufe der leidvollen Geschichte unabdingbar. Die Polen wissen sich mit schwierigen Bedingungen zu arrangieren, sie gewöhnen sich sogar daran.

Dennoch verändert sich die Gesellschaft in rasantem Tempo. Die demografischen Trends sind ähnlich wie in Westeuropa. Mit 1,23 liegt die Geburtenrate unter dem EU-Durchschnitt. Sie hat sich seit der Wende nahezu halbiert. Das bereitet auch der polnischen Regierung größte Sorge. "Es ist wie eine Besessenheit", sagt Agnieszka Grzybek von der Partei Grüne 2004 in Polen. Die PiS wolle unbedingt die Geburtenrate erhöhen. Denn mehr Kinder bedeuteten mehr Polen und eine größere Nation. "Und das bedeutet mehr Einfluss in Europa", sagt sie. Was andere EU-Länder in 30 Jahren durchgemacht haben, ist in Polen in den vergangenen 14 Jahren im Zeitraffer passiert. Schwierigere Lebensbedingungen nach dem Kollaps des sozialistischen Einheitsstaates, weniger Stabilität, Wettbewerb, die Möglichkeit zu Reisen, neue Chancen und dann die kulturellen Entwicklungen, der Wunsch nach Selbstverwirklichung und individueller Entscheidung. Wie ihre deutschen Altersgenossen waren Basia und Adam beim Kinderkriegen typische Spätzünder.

Doch bestimmte Traditionen sind geblieben: Zuerst kam die Hochzeit. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ihre Ehe hält, nicht nur, weil ihre Beziehung gesund wirkt. Die Scheidungsrate betrug im Jahr 2004 gerade einmal 0,6 Prozent. Die katholisch geprägten Werte laufen im Kontrastprogramm zur unaufhaltbaren Verwestlichung der polnischen Gesellschaft. Fast kein Paar lebt ohne Trauschein in einem eigenen Haushalt.

Viele polnische Familien haben es im Alltag schwer. Nach Untersuchungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) arbeitet der durchschnittliche Berufstätige in Polen etwa ein Drittel länger als sein deutscher Kollege. Dagegen verdiente ein Pole im Jahr 2002 nicht einmal die Hälfte des deutschen Pro-Kopf-Einkommens.

Das Durchschnittseinkommen eines Haushaltes mit zwei Kindern lag im Jahr 2004 bei umgerechnet gut 500 Euro. Lebensmittelpreise dagegen sind in Polen schon fast so hoch wie in Deutschland. Wenn nur ein Ehepartner arbeitet, ist die Familie im Normalfall sozial nicht abgesichert.

Zwang zum Doppelverdienen

Viele polnische Frauen haben Angst, ihren Job zu verlieren, wenn sie ein Kind bekommen. Mütter werden auf dem von Männern dominierten Arbeitsmarkt diskriminiert. Oft kehrt die Frau nach dem Mutterschaftsurlaub zwar offiziell in ihren Job zurück. In der Zwischenzeit jedoch hat jemand anders ihre Stelle übernommen. Sie ist überflüssig geworden. Die Feministinnen, die in Polen die Avantgarde der verschwindend kleinen linken Bewegung bilden, kämpfen praktisch ohne Lobby für Reformen.

Viele arbeitende Mütter, besonders die weniger ausgebildeten, würden gern mehr Zeit mit ihren kleinen Kindern verbringen, müssen aber arbeiten. Anders ist es bei der Akademikerin Basia. Sie könnte sich finanziell auch auf Adam verlassen. Er nennt sie liebevoll: "meine Frau Doktor". Adam schwelgt in Geschichten aus der Zeit der "Freiheit vor der Freiheit". Mit einem Rucksack reiste er durch Europa. Als Pole brauchte er noch für jedes Land ein Visum, weswegen er schräge Grenzgeschichten zu berichten weiß. Bei einer Tante in Spanien schlug er sich als Aquarellmaler durch und lernte kiffende Hippies aus Mannheim kennen.

Nach dem Studium bekam er ein Architekturstipendium in Österreich. Damals promovierte Basia in Warschau. Erst machten beide Karriere, dann bekam Basia im Alter von 32 ihr erstes, mit 36 dann das zweite Kind.

Bei Basia und Adam wird jede Dienstreise verhandelt. Denn auch die gelernte Kunstrestauratorin reist für Konferenzen oft ins Ausland. "Als arbeitende Mutter ist es schwer", räumt sie ein. "Irgendwie macht man beides nur zum Teil", erzählt sie und fügt hinzu: "Neulich bin ich wieder einen Tag vor Ende der Konferenz weggefahren, um bei den Kindern zu sein."

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