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Flüchtlinge aus Aleppo Türkei hält die Grenze zu Syrien verschlossen

Die Lage im syrisch-türkischen Grenzgebiet ist dramatisch: Zehntausende Flüchtlinge aus Aleppo sitzen fest. Es ist kalt, es gibt nicht genug Trinkwasser, zu wenig Zelte. Doch die Regierung in Ankara will die Syrer nicht ins Land lassen - noch nicht.

Sie alle wollen weg - weg aus dem Kampfgebiet um Aleppo im Norden Syriens, weg von den russischen Bomben. Zehntausende Syrer harren an der Grenze zur Türkei aus: junge Mütter mit ihren Babys auf dem Arm; Väter, die ihre letzten Habseligkeiten in großen Tüten schleppen; alte Frauen, die Plastiksäcke voller Kleidung auf dem Kopf tragen. Und ein kleiner Junge an der Hand eines Soldaten, der seine Eltern in den Kriegswirren in Syrien verloren hat.

Rund 50.000 Flüchtlinge warten auf syrischer Seite darauf, dass die Türkei den Übergang ins sichere Nachbarland geöffnet wird. Sie haben sich vor allem im Grenzort Bab al-Salama versammelt. Dort harren sie in der Kälte unter freiem Himmel aus, warten darauf, dass die Regierung in Ankara sie endlich einreisen lässt. "Hoffnungslos" sei die Lage vor Ort, beklagt die Organisation Ärzte ohne Grenzen. Im ganzen Bezirk Asas fehle es an Unterkünften, sauberem Wasser und Sanitäranlagen.

"Meine Frau ist auf der anderen Seite der Grenze, allein mit unseren drei Kindern", sagt Abdullah. Ihm ist die Flucht aus Syrien in die Türkei bereits gelungen. Er wartet auf der türkischen Seite am Grenzübergang Öncüpinar. Jetzt sei seine Frau allein im Grenzgebiet auf der syrischen Seite. Er macht sich Sorgen: "Sie hat mich schon von drei verschiedenen Telefonnummern aus angerufen." Die oppositionsnahe Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte sprach von einer "dramatischen Lage".

Im Fall Aleppos rechnet Türkei mit einer Million Flüchtlingen

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu rechnet mit weiteren Zehntausenden Flüchtlingen, die auf dem Weg zur türkischen Grenze sein sollen. Die einstige syrische Wirtschaftsmetropole Aleppo, in der noch immer Hunderttausende Menschen leben, liegt nur etwa 60 Kilometer von der türkischen Grenze entfernt.

Im Raum Aleppo rücken syrische Soldaten von Machthaber Baschar al-Assad gegen die Aufständischen vor, darunter auch viele Islamisten der Nusra-Front und ihrer Verbündeten. Die russische Luftwaffe fliegt immer wieder Bombenangriffe.

Sollte die Stadt ganz von den syrischen Regierungstruppen eingenommen werden, rechnet die Türkei mit mehr als einer Million zusätzlicher Flüchtlinge. Nach eigenen Angaben hat sie bereits mehr als 2,7 Millionen Syrer aufgenommen. Hilfsorganisationen fürchten eine neue humanitäre Katastrophe im Grenzgebiet zwischen Syrien und der Türkei.

Grenze auch am Sonntag zu

Nach Angaben von Helfern will Ankara Zehntausende Flüchtlinge auf der syrischen Seite der Grenze versorgen. Ein Sprecher der regierungsnahen Hilfsorganisation IHH sagte am Sonntag, Helfer lieferten Essen, Decken und Zelte an etwa 50.000 in der Grenzregion nahe der Stadt Asas ausharrende Syrer. Der Gouverneur der türkischen Grenzregion Kilis hatte zuvor von 35.000 Menschen gesprochen. Er erwartet bis zu 70.000 Menschen.

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Kämpfe in Aleppo: Tausende Syrer auf der Flucht

Foto: AFP/ Shabha Press/ Stringer

Der türkische Grenzübergang Öncüpinar blieb auch am Sonntag dicht, wie ein Sprecher des Gouverneursamts von Kilis bestätigte. Zunächst wolle die Türkei die Flüchtlinge in ihrem Heimatland versorgen. "Wir tun alles, was in unserer Macht steht", sagte der Sprecher. Die Grenze sei jedoch nicht grundsätzlich geschlossen. Falls nötig werde den Flüchtlingen Einlass gewährt, sagte der Sprecher, ohne Details zu nennen.

Eine ähnliche Wortwahl hatte zuvor Präsident Recep Tayyip Erdogan gewählt. Die syrische Führung habe "einen Teil von Aleppo blockiert", sagte Erdogan vor Reportern. Wenn die dadurch vertriebenen Zivilisten "vor unseren Türen stehen und keine andere Wahl haben, müssen und werden wir unsere Brüder hereinlassen - wenn nötig". Einen Zeitpunkt für die mögliche Grenzöffnung nannte Erdogan jedoch nicht.

Die EU hatte die Türkei aufgefordert, die Migranten ins Land zu lassen. Es gelte nach wie vor die Genfer Konvention, "wonach Flüchtlinge aufzunehmen sind", sagte EU-Erweiterungskommissar Johannes Hahn am Samstag.

Die Großstadt Aleppo ist seit Mitte 2012 geteilt: Der Westen wird von Truppen des Machthabers Assad gehalten, während die östlichen Viertel unter Kontrolle der Rebellen stehen. Nun rücken die staatlichen Einheiten immer wieder vor - begünstigt durch russische Luftangriffe. Der Verlust der Millionenstadt wäre die bisher schwerste Niederlage für die Aufständischen. Der syrische Bürgerkrieg dauert seit fast fünf Jahren an.


Zusammengefasst: Trotz Winterkälte verwehrt die Türkei Zehntausenden syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen aus dem umkämpften Aleppo den Einlass. Der türkische Grenzübergang Öncüpinar blieb auch am Sonntag dicht. Nach unterschiedlichen Angaben harren seit Tagen zwischen 30.000 und 50.000 Menschen in der Nähe der syrischen Stadt Asas aus. Die türkische Führung rechnet laut Medienberichten mit rund 70.000 Schutzsuchenden aus Nordsyrien. Die Türkei will die Flüchtlinge nach Behördenangaben zunächst auf der syrischen Seite der Grenze versorgen.

heb/AFP/dpa
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