Arme Kolumbianer helfen Flüchtlingen aus Venezuela In Henrys Hütte

Henry Jeromito und seine Familie leben in Kolumbien in Armut. Trotzdem haben sie ihr Haus für geflohene Venezolaner geöffnet - denn sie wissen, wie es ist, die Heimat zu verlieren. Ein Besuch.
Arme Kolumbianer helfen Flüchtlingen aus Venezuela: In Henrys Hütte

Arme Kolumbianer helfen Flüchtlingen aus Venezuela: In Henrys Hütte

Foto: Heike Klovert/SPIEGEL ONLINE

Eigentlich ist in Henry Ardila Jeromitos Haus kein Platz für weitere Menschen. Er lebt in einer löchrigen Hütte aus Spanplatten, die als Wohnstätte und als Werkstatt herhalten muss. In einem Raum schlafen seine beiden Töchter und sein Enkel. Im anderen Raum schlafen er und seine Frau. Die Zimmer sind so klein, dass die Betten gerade hineinpassen.

Im Raum davor, im Eingangsbereich, stehen die beiden Nähmaschinen, an denen Jeromito und seine Mitarbeiter die Turnschuhe herstellen, die sie einer Firma zuliefern. Dicke Risse durchziehen den Betonboden, Stromkabel kleben wie Spinnenweben an den Wänden. Wenn sich Jeromito waschen will, schöpft er Wasser aus den Blechtonnen im Verschlag hinter der Hütte.

Der 40-Jährige und seine Familie leben in Las Delicias, einer Siedlung im Norden Kolumbiens. Karge Hügel erstrecken sich ringsum, die Straßen sind staubig und steil.

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Dorf in Kolumbien: Wo Flüchtlinge Flüchtlinge aufnehmen

Foto: Heike Klovert/SPIEGEL ONLINE

Die meisten der rund 800 ansässigen Familien sind sehr arm. Und etwa jede zweite von ihnen weiß, wie es ist, vertrieben zu werden. Sie gehören zu den rund 7,7 Millionen Binnenflüchtlingen, die mehr als 50 Jahre Bürgerkrieg in Kolumbien hervorgebracht haben. In den vergangenen zehn Jahren ließen sie sich in Las Delicias nieder. Vielleicht auch wegen dieser Vorgeschichte haben rund zwei Dutzend Familien ihre Hütten für Flüchtlinge aus Venezuela geöffnet.

Jeromito ist ein stämmiger Mann mit Bart und Fußballtrikot, der sich noch gut daran erinnert, wie vor rund einem Jahr sieben Venezolaner an seine Tür klopften. Die Grenze liegt weniger als zehn Kilometer Luftlinie entfernt. Es war ein Sonntag gegen fünf Uhr abends, er lud sie ein, mit ihnen zu essen: Maisfladen mit Käse, dazu Cola. "Sie hatten lange keine Cola mehr getrunken", sagt Jeromito.

Seither beherbergt er regelmäßig Venezolaner. Sie schlafen auf dem Boden neben den Nähmaschinen, bis sie wissen, wohin sie weiterziehen wollen. Meistens bleiben sie ein paar Wochen.

Die kolumbianische Regierung propagiert offiziell eine Willkommenskultur. Doch das Engagement in Las Delicias geht so weit, dass es sogar Hilfsorganisationen verblüfft. "Es kam sehr spontan", sagt Tiana Anaya vom Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das den Familien lediglich die Rechnungen für Wasser, Gas und Strom zahlt. "Wir verstehen selbst nicht ganz, warum die Empathie hier so groß ist."

Die Hilfsbereitschaft schwindet

Denn im Rest des Landes bröckelt die Solidarität zusehends. Kolumbien hat mehr venezolanische Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land. Von rund 3,4 Millionen Venezolanern, die ihre unsichere und verarmte Heimat verlassen haben, leben etwa 1,2 Millionen in Kolumbien. Das ist eine große Belastung für das Land, das mit vielen eigenen Problemen zu kämpfen hat.

Die Regierung und die linke Guerillaorganisation Farc haben 2016 zwar einen Friedensvertrag unterzeichnet. Doch der Konflikt zwischen Staat, Rebellen und rechten Paramilitärs ist deswegen nicht ausgestanden.

Der neue konservative Präsident Iván Duque hat deutlich gemacht, dass er nicht hinter dem Abkommen steht, das sein Vorgänger ausgehandelt hat. Außerdem stocken die Gespräche mit der kleineren Guerillagruppe ELN, in vielen Landesteilen nehmen Gewalt und Unsicherheit zu, die Kokainproduktion floriert. Nach Angaben des UNHCR kamen allein im vergangenen Jahr 130.000 neue kolumbianische Binnenflüchtlingen zur Statistik des Bürgerkriegs hinzu.

Wie viele Flüchtlinge zusätzlich noch aus Venezuela kommen werden, weiß niemand. Dort scheint sich die Lage weiter zuzuspitzen. Am Montag schickte die russische Regierung zwei Flugzeuge mit Soldaten und Gütern nach Caracas, um Präsident Nicolas Maduro zu unterstützen. Laut Schätzungen des UNHCR könnten bis zum Jahresende mehr als fünf Millionen Venezolaner ihr Land verlassen haben.

Hinzu kommen viele, die tageweise über die Grenze pendeln.

Was sie antreibt, sehen Sie im folgenden Video:

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Bereits Ende 2017 startete das UNHCR eine Kampagne gegen Fremdenfeindlichkeit in Kolumbien, damit sich die Stimmung gegenüber Venezolanern nicht weiter verschlechtert. Das Flüchtlingshilfswerk hat bis Ende März mehr als 1700 Venezolaner befragt. Fast sechs von zehn gaben an, dass sie in Kolumbien Diskriminierung erfahren hätten.

Zur Kampagne gehören Kurzfilme im Internet und Plakate, auf denen Sätze stehen wie dieser: "Eine Person, die aus Venezuela nach Kolumbien kommt, hat die gleichen Rechte wie du. Respektiere sie, schütze sie, helfe ihr."

Immer mehr Schutzgeld

In Jeromitos Dorf hängen solche Plakate nicht. Er weiß auch so, wie es sich anfühlt, auf der Flucht zu sein. Vor 13 Jahren ließ er die Schuhfabrik zurück, die er sich in seiner Heimat aufgebaut hatte, und floh - wie viele Kolumbianer - nach Venezuela. Bewaffnete Banden hatten versucht, immer mehr Schutzgeld von ihm zu erpressen.

Einige Millionen Kolumbianer leben noch in Venezuela. Jeromito kam vor fünf Jahre wieder zurück. Er hatte das Gerücht gehört, dass erwachsene Kolumbianer abgeschoben werden sollten, ihre Kinder aber nicht. Jeromitos jüngere Tochter Mariana ist in Venezuela geboren.

In seiner Hütte in Las Delicias setzt er nun mit Turnschuhen pro Woche umgerechnet rund 140 Euro um. Eine Firma liefert ihm passende Stoffstücke, die er zusammennäht. Wer ihm hilft, bekommt einen Lohn. "Ich träume davon, wieder eine Fabrik aufzubauen und viele Menschen auszubilden", sagt er.

Einem der Gäste aus dem Nachbarland hat er das Handwerk schon beigebracht. Der 22-Jährige arbeitet jetzt in einer Fabrik in der Nähe und unterstützt die derzeit achtköpfige kolumbianisch-venezolanische Wohngemeinschaft finanziell.

Die Familie blieb zurück

Die Mutter des jungen Mannes, Yusmaira Maita, sitzt auf einem Korbstuhl in Jeromitos Werkstatt und erzählt mit Tränen in den Augen von ihrer Heimat. "Ich würde gerne zurück, aber dort gibt es nichts, kein Essen, keine Arbeit." Ihre Geschwister und ihre Eltern sind noch in Venezuela. Das Geld, das Maita zahlen musste, um die illegalen Grenzübergänge passieren zu dürfen, reichte nur für sie und ihre zwei Söhne.

Wie es für sie in Kolumbien weitergeht, weiß sie nicht. Das Land hatte extra für geflohene Venezolaner die Möglichkeit geschaffen, eine vorübergehende Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis (PEP) zu bekommen. Diese gilt jedoch nur zwei Jahre und nur für Menschen, die einen Pass vorweisen können.

Wer ein sogenanntes PEP hat, findet deshalb jedoch noch längst keinen festen Job. Außerdem hat die Regierung ihr Angebot inzwischen eingeschränkt: Wer nach dem 17. Dezember ins Land kam, darf kein PEP mehr beantragen, sondern höchstens Asyl. Bis sein Antrag bearbeitet ist, darf er nicht arbeiten und bekommt auch keine Sozialhilfen. Sechs von zehn Venezolaner leben ohne geregelten Aufenthaltsstatus in Kolumbien. Jeder zweite zieht weiter, nach Ecuador, Peru, Argentinien oder Chile.

Wenn Yusmaira Maita und ihre Söhne irgendwann gehen, will Jeromito neue Flüchtlinge aufnehmen. Rund 60 Venezolaner haben in den vergangenen Monaten schon bei ihm gewohnt. "Wir haben eine besondere Verbindung", sagt er. "Wenn sie weg sind, fehlen sie mir."

Dieser Artikel entstand im Rahmen einer Recherchereise der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen nach Kolumbien und Peru.

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