Urteil zum EU-Asylrecht Solidarität mit Flüchtlingen? Euer Problem!

Merkels "Wir schaffen das"-Kurs von 2015 war rechtens - das bestätigt der Europäische Gerichtshof. Trotzdem blieben ankommende Flüchtlinge die Angelegenheit der Länder mit EU-Außengrenzen, so die Richter.
Syrische Flüchtlinge in der Türkei auf dem Weg zur griechischen Grenze (2015)

Syrische Flüchtlinge in der Türkei auf dem Weg zur griechischen Grenze (2015)

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Die Bundeskanzlerin darf sich freuen: Der Europäische Gerichtshof hat die "Wir schaffen das"-Politik von Angela Merkel und die Grenzöffnung des Sommers 2015 indirekt für rechtens erklärt. Ein EU-Land, so die Richter, darf Asylbewerber aus humanitären Gründen freiwillig aufnehmen - auch wenn es für deren Anträge eigentlich gar nicht zuständig ist.

Von dieser sogenannten Eintrittsklausel hatte die Bundesregierung vor zwei Jahren Gebrauch gemacht, als die Situation Hunderttausender Kriegsflüchtlinge aus Syrien im Osten der EU untragbar zu werden drohte. Dagegen agitierten nicht nur die Rechtspopulisten der AfD, auch zwischen CDU und CSU entbrannte heftiger Streit. CSU-Chef Horst Seehofer sprach gar von einer "Herrschaft des Unrechts". Das ist nun auch höchstrichterlich als Unfug entlarvt.

Allerdings: Der EuGH betont in den beiden Urteilen (Aktenzeichen C-490/16  und C-646/16 ) zugleich, dass die umstrittene Dublin-Verordnung gilt - egal, wie groß die Menschenmassen sind, die sich an den Grenzen drängeln.

Staaten mit EU-Außengrenzen sind weiter im Nachteil

Laut den Dublin-Regeln muss das Land, in dem ein Asylbewerber erstmals den Boden der EU betritt, dessen Antrag prüfen. In dem EuGH-Verfahren ging es um Kroatien, dessen Regierung 2015 und 2016 Tausende Flüchtlinge in Bussen nach Slowenien und Österreich bringen ließ, damit sie dort Asylanträge stellen. Darunter waren auch ein Syrer und eine afghanische Familie, die wieder nach Kroatien zurückgeführt werden sollten und dagegen geklagt hatten.

Ihre Weiterreise nach Slowenien und Österreich war jedoch illegal, wie der EuGH nun erklärt. Dass Kroatien die Durchreise geduldet habe, gelte nicht als Visum für die gesamte EU. Auch die Entscheidung eines EU-Staates, Asylbewerber aus humanitären Gründen die Einreise zu gestatten, gelte nur für dieses Land.

Damit bleibt ein großes Problem für die Staaten mit EU-Außengrenzen: Sie sind allein für die Asylanträge derer verantwortlich, die auf ihrem Gebiet in die EU kommen - während Deutschland, Österreich oder Frankreich selbst entscheiden können, ob und wie sehr sie helfen. Derzeit betrifft das vor allem Italien. Während der Flüchtlingszuzug über Griechenland und die Westbalkanroute drastisch zurückgegangen ist, überqueren nach wie vor Monat für Monat viele Tausend Migranten das Mittelmeer.

EuGH-Urteil zu Ungarn und Slowakei: Sprengstoff für die EU

Die Bereitschaft anderer Länder, Italien einen Teil dieser Menschen abzunehmen, hält sich in engen Grenzen. Das aber sei nicht das Problem des EuGH, meint der Göttinger Staatsrechtler Alexander Thiele. "Das Fazit des Urteils ist, dass die Dublin-Verordnung alles enthält, um Krisen zu bewältigen." Ob aber Solidarität zwischen den EU-Staaten herrscht, sei eine Frage der Politik. "Das Recht erlaubt Solidarität, aber es kann sie nicht herstellen."

Der Politik stehen jedoch weiter schwere Konflikte um die Asyl- und Migrationspolitik bevor - auch das wurde am Mittwoch am EuGH deutlich. Dessen Generalanwalt Yves Bot fordert, dass auch Ungarn und die Slowakei sich an der Verteilung von Flüchtlingen in der EU beteiligen. Beide Länder hatten gegen den Beschluss der EU zur Umverteilung von 120.000 Flüchtlingen geklagt, bei dem sie im September 2015 überstimmt wurden. Bot empfiehlt dem EuGH in seinem am Mittwoch veröffentlichten Schlussantrag, die Klagen abzuweisen. Der EU-Beschluss trage "wirksam und in verhältnismäßiger Weise" dazu bei, Griechenland und Italien bei der Bewältigung des Flüchtlingsandrangs zu helfen.

Für die EU ist das Urteil, das im Herbst fallen soll, purer Sprengstoff. Denn sollte der EuGH der Ansicht des Generalanwalts folgen - was als wahrscheinlich gilt -, ist keinesfalls ausgemacht, wie Ungarn und die Slowakei reagieren. Die Aufnahme von Flüchtlingen ist dort politisch derart aufgeladen, dass eine Verweigerung der Umsetzung des Urteils als nicht ausgeschlossen erscheint.

"Das würde die EU in ihren Grundfesten erschüttern", meint der Konstanzer EU-Rechtler Daniel Thym. Nach Meinung des Göttinger Juristen Thiele wäre "der Rechtsstaat dann partiell am Ende". Der EuGH sei darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten seine Urteile freiwillig befolgen. "Wenn das nicht mehr geschähe, wäre das alarmierend."

Instrumente, seine Urteile gegen Widerstände durchzusetzen, hat der EuGH praktisch nicht. "Es gibt keine EuGH-Armee, die in Ungarn einmarschieren könnte", meint Thiele. Zwar könnte die EU-Kommission ein Verfahren wegen der Verletzung der EU-Verträge eröffnen, doch auch das ist eine stumpfe Waffe, deren Einsatz keinesfalls außergewöhnlich ist. Allein gegen Ungarn laufen derzeit 78 solcher Verfahren, gegen die Slowakei 66.

Die Mechanismen der EU basierten auf der Annahme, dass es eine europäische Interessen- und Wertegemeinschaft gebe, meint der Bielefelder Jurist Constantin Hruschka. "Im Asylbereich existiert sie nicht." Deshalb versagten die EU-Mechanismen. "Sie sind nicht darauf vorbereitet, dass Staaten sich konsequent verweigern."


Zusammengefasst: Der Europäische Gerichtshof hat in mehreren Urteilen die Regeln der EU zum Umgang mit Asylbewerbern gestärkt. Damit haben die Richter indirekt die Öffnung Deutschlands für Hunderttausende Flüchtlinge im Sommer 2015 gutgeheißen - betonen aber auch, dass die Staaten mit EU-Außengrenzen weiterhin zuerst verantwortlich für Asylanträge sind. Damit spielen die Richter im Streit um die Aufnahme von Flüchtlingen den Ball an die Politik zurück.

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