
Der Dschungel von Calais: Das Flüchtlingscamps wurde plattgemacht
Flüchtlinge in Frankreich Keine Heimat, nirgends
Vor Ort wirkt der Einsatz wie ein durchschlagender Erfolg: In den Wäldern rund um Calais zeugen nur noch Plastikflaschen, Stofffetzen und Aschehaufen davon, dass hier noch vor kurzem mehrere hundert Menschen hausten. Jetzt, eine Woche nachdem ein Aufgebot von mehr als 500 Polizisten an der französischen Kanalküste die wilden Flüchtlingscamps räumte, sind die erbärmlichen Slums aus Brettern und Planen zerstört, die Erdlöcher zugeschüttet. Die in den Waldgebieten um die Stadt festgenommenen 276 Ausländer, darunter rund 120 Minderjährige, wurden vernommen und anschließend in "Rückhaltezentren" beherbergt; für die Jugendlichen verordnete man die Einweisung in "spezielle Unterkünfte".
"Ein Durchbruch", triumphierte Einwanderungsminister Eric Besson über die Beseitigung der "offenen Müllkippe" und die Wiederherstellung von "Recht und Gesetz". Dabei hat sich der Ansturm der , die entlang des Ärmelkanals auf eine Gelegenheit warten, um heimlich nach überzusetzen, nur vorübergehend verlagert. Einige der Illegalen setzten sich rechtzeitig vor der Polizeiaktion nach oder Holland ab, andere suchten Verstecke weiter im Hinterland oder fanden Zuflucht in Paris - hier sammeln sich die Flüchtlinge bei der Essensausgabe entlang des Kanal Saint Martin.
"Skandalös" und "ineffektiv" schimpfen humanitäre Organisationen wie Amnesty International oder die Katholische Hilfe über die Zerstörungsaktion der behelfsmäßigen Waldlager bei Calais und befürchten eine bevorstehende "Verschärfung der Situation". "Die Behausungen niederzureißen wird nur dazu führen, dass die Camps weiter zerstreut sind", so ihre Vermutung: "Damit werden die Zuwanderer erst recht den mafiösen Netzwerken ausgeliefert."
Dabei hatte Einwanderungsminister Besson sein Amt gerade mit dem erklärten Ziel angetreten, den Menschenschmugglern endgültig das Handwerk zu legen. Seine erste Bilanz vom Juli rechnet vor, dass die Polizei im ersten Halbjahr 2009 rund 30 heimliche Zuwanderungsrouten aufdeckte und 235 Drahtzieher festnahm; darunter Briten, Franzosen, Deutsche und auch Afghanen und Pakistaner, die das Elend der Flüchtlinge als profitträchtiges Geschäft organisiert haben. "Das Gesetz des Dschungels und der Schmuggler hat ein Ende", freute sich Besson.
Hilfsorganisation nennt Lage unzumutbar
Da sind freilich Zweifel erlaubt. Schon 2002 hatte Präsident , seinerzeit Innenminister, mit einem harten Kurs die Flut der Zuwanderung stoppen wollen. Er verordnete kurzerhand die Schließung des Rot-Kreuz-Lagers von Sangatte - und sorgte damit dafür, dass sich die Flüchtlinge in den Wäldern rund um die Zugeinfahrt zum Kanaltunnel niederließen: Hier warten sie auf die Chance, sich zwischen Frachtgut zu verstecken, versuchen auf Lastwagen aufzuspringen oder wagen gar die Mitfahrt in Kühlcontainern.
Auch Einwanderungsminister Besson setzt auf Repression: Mit Hilfe der Briten, die dafür zehn Millionen Pfund (etwa elf Millionen Euro) lockermachen, sollen die Kontrollen an der Grenze verstärkt werden. Hundert Beamte zusätzlich sollen den Schmuggel stoppen, künftig werden alle Lkws, die auf die Insel übersetzten, durchleuchtet. Zugleich bietet allen illegalen Ausländern, die sich auf eine "freiwillige Rückkehr" in ihre Heimat einlassen, eine Kopfprämie von 2500 Euro. Bisher haben freilich nur rund 180 Flüchtlinge das Angebot genutzt. Den anderen droht die Abschiebung oder sogar Haft.
Für Patrick Peugeot, Präsident der ökumenischen Hilfsorganisation La Cimade, eine völlig unzumutbare Option. "Die Exilanten stammen fast ausschließlich aus Afghanistan. Umstritten ist obendrein, wie viele davon Jugendliche unter 18 Jahren sind - denn Minderjährige dürfen nach internationalem Recht nicht abgeschoben werden, wenn in ihrer Heimat Krieg geführt wird."
Die Lager sind nicht mehr als bessere Haftanstalten
Cimade-Präsident Peugeot, 72, packt fast heiliger Zorn, wenn er über "den Vorfall von Calais" spricht, denn er beobachtet eine "Verhärtung der Einwanderungspolitik" - nicht nur in Frankreich. "Europa verbarrikadiert sich", klagt der Präsident des Vereins, der 1939 auf Initiative protestantischer Jugendgruppen gegründet wurde, um Vertriebenen aus dem und Lothringen beizustehen. Das Hilfswerk, das sich später ohne Ansehen von Herkunft, Religion oder Nationalität für Nazi-Flüchtlinge und Widerstandskämpfer einsetzte, für Juden oder internierte , vertritt heute die Interessen von ausländischen Flüchtlingen in 58 sogenannten Rückhaltezentren.
In diesen Lagern, besseren Haftanstalten, betreuen rund 2000 Freiwillige - ganz offiziell und in staatlichem Auftrag - jährlich mehr als 100.000 Flüchtlinge: Sie informieren Emigranten aus den Krisenzentren von Schwarzafrika bis Asien über ihre Rechte und helfen ihnen etwa beim Antrag auf politisches Asyl - ein humanitäres Engagement, das Polizei und Präfekten zunehmend sauer aufstößt. Ein Versuch von Minister Besson, Auftrag und Rechte des Hilfswerks zu beschneiden, wurde zwar im Juni von Frankreichs obersten Richtern mit einer mutigen Entscheidung zugunsten des Hilfswerks gestoppt. "Seither ist jedoch offen", so Peugeot, ob unser im September auslaufendes Mandat wieder verlängert wird."
Das Schicksal der in der vergangenen Woche im "Dschungel von Calais" festgenommenen Flüchtlinge ist noch immer offen: Sie wurden über ganz Frankreich verteilt und bei Haftrichtern zwischen Lille, Toulouse, Paris und Nîmes vorgeführt - und wegen Missachtung ihrer Rechte durchweg freigesprochen. Kein Grund zur Freude für Cimade-Präsident Peugeot: "Die wenigsten der aufgegriffenen Immigranten sind auf freiem Fuß", berichtet er, "das Ministerium hat in allen Fällen Berufung eingelegt."