

Flüchtlinge in Idomeni Wir müssen das Aushalten ausschalten

Mutter mit Kind in Idomeni
Foto: BULENT KILIC/ AFPVerzweifelte Eltern, weinende Kinder, Tränengaspatronen abgefeuert von Soldaten, mitten in Europa, am Grenzzaun von Idomeni: Gegen den Impuls, bei solchen Bildern vor Wut zu schreien und zu heulen, haben Politiker wie Thomas de Maizière und Alexander Gauland uns abzuhärten versucht. "Wir müssen harte Bilder aushalten", sagt der Innenminister. "Wir können uns nicht von Kinderaugen erpressen lassen", sagt der AfD-Vize.
Sie wollen unser Mitgefühl abschalten oder wenigstens dimmen. Bernd Ulrich von der "Zeit" nennt es eine "politische Verrohungskampagne", was Kinderaugen-Gauland und Schießbefehl-Petry seit Monaten betreiben. Und nach einem Dreivierteljahr Flüchtlingsdebatte, nach Schließung der Balkanroute und nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals, muss man feststellen: Es ist ihnen zumindest gelungen, den Ton in der Flüchtlingsdebatte zu verschärfen, den Diskurs nach rechts zu rücken.
Selbst kluge und zu Mitgefühl fähige Freunde, Verwandte, Kollegen benutzen plötzlich Kampfbegriffe wie "illegale Migranten" und sagen Null-Sätze wie: "Solche Massen sind nicht zu verkraften."
Kaum jemand fragt dann noch nach den Kriterien, auf deren Grundlage solche Feststellungen getroffen werden: Finanzielle können es nicht sein - der Wohlstand in Deutschland reicht für weit mehr als die Grundversorgung von ein paar hunderttausend Hilfesuchenden. Die sind ja bereits da, ohne dass jemand in Zahlungsschwierigkeiten geraten wäre. Im Nahen Osten lachen sie über uns, wenn wir von einer Flüchtlingskrise sprechen - Jordanien hat mehr Schutzsuchende aufgenommen als alle EU-Staaten zusammen, wie der Migrationsforscher Kamel Dorai vorrechnet.
Hetzer wie Schwätzer tun in der Flüchtlingsdebatte so, als würden sich Vernunft und Empathie ausschließen, als wäre Egoismus per se vernünftig. Sie tarnen ihre Ängste, ihre Vorurteile, ihren Rassismus als gesunden Menschenverstand. Sie diffamieren Mitgefühl als emotionalen Affekt, als Gutmenschentum, als unverantwortlich.
Höchste Zeit, ihnen etwas entgegenzusetzen, immer und immer wieder. Denn das Gegenteil ist richtig: Empathie hilft dabei, vernünftige Entscheidungen zu treffen. Wer nicht nur die Interessen seines Gegenübers kennt, sondern auch dessen Gefühlslage einschätzen kann, um die Nöte und Bedürfnisse des anderen weiß, wird klüger, umsichtiger und, ja, blödes Wort, nachhaltiger handeln als der ängstliche Egoist.
Die Verrohung der öffentlichen Debatte hat zum Glück weite Teile der Gesellschaft noch nicht infiziert. Ärzte und Pfleger arbeiten nach wie vor ehrenamtlich in den Auffanglagern; Lehrer, Erzieher, Schüler sammeln Spenden; Anwälte helfen bei Asylanträgen; Kirchengemeinden, WGs, Familien nehmen Syrer auf; Studenten holen Flüchtlinge im Kofferraum ins Land; Aktivisten heiraten Fremde, um ihnen einen dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen. Viele Deutsche sind im Kopf und im Herzen weiter als ihre gewählten Vertreter und die Befüller der Kommentarspalten.
Lasst uns von ihnen Empathie lernen, lasst uns die Bilder von Idomeni, die Toten in der Ägäis nicht hinnehmen. Wir müssen, wir dürfen diese Bilder nicht aushalten. Wir sollten die Flüchtlinge von Idomeni in Deutschland aufnehmen.
Im Video - Chaotische Szenen in Idomeni:
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Mazedonische Polizisten haben nach Angaben Griechenlands am Sonntag an der abgeriegelten Grenze Tränengas gegen hunderte Flüchtlinge eingesetzt. Eine Frau versucht, ihrem Kind die Augen auszuspülen.
Die Verhältnisse am Grenzzaun von Idomeni sind chaotisch. Manche Flüchtlinge versuchen offenbar, sich durch Zahnpasta im Gesicht und unter den Augen vor den Auswirkungen des Tränengas zu schützen.
Was ist passiert? Hunderte Migranten waren am Sonntag einem arabischen Flugblatt gefolgt, das seit dem Vortag in der Zeltstadt kursiert.
Der Aufruf, so vermuten es Medien, stammt von Aktivisten: Die Hilfesuchenden, so heißt es darin, sollen sich versammeln und nach Mazedonien marschieren.
Nach Gesprächen mit mazedonischen Polizisten und einer Sitzblockade eskalierte die Situation am Zaun am Nachmittag zunehmend.
In dem Grenzort Idomeni sitzen mehr als 11.000 Menschen fest, seit die Fluchtroute über den Balkan vor wenigen Wochen abgeriegelt worden war. Seitdem fordern sie die Öffnung der Grenze zu Mazedonien, um von dort aus weiter Richtung Deutschland und in andere europäische Länder zu kommen.
Flüchtlinge schmeißen Steine: Die Migranten hätten am Vormittag in der Nähe des Grenzübergangs im griechischen Idomeni versucht, die Absperrungen zu durchbrechen, teilte die griechische Polizei mit.
Daraufhin hätten die Beamten auf mazedonischer Seite Tränengas eingesetzt.
Einige Flüchtlinge seien nach dem Tränengaseinsatz umgekippt, hieß es der Polizei sowie einem Bericht des griechischen Senders Ert zufolge.
Dieser Mann ist vom Tränengas-Einsatz gezeichnet.
Ein Flüchtling bringt seine Tochter aus der Gefahrenzone an der Grenze.
Die mazedonische Polizei bestätigte die Vorfälle an der Grenze, wies aber den Einsatz von Tränengas zurück. Dafür sei "die griechische Polizei" verantwortlich. Auf mazedonischer Seite sei es "ruhig".
Regelmäßig gibt es in Idomeni heftige Proteste gegen die Grenzschließung. In den vergangenen Tagen war in dem provisorisch errichteten Flüchtlingslager erneut das Gerücht umgegangen, Mazedonien werde die Grenze öffnen.
Sobald die Flüchtlinge die Tränengas-Büchsen mit Decken unschädlich gemacht haben, ertönen Jubel und Verwünschungen gegen die mazedonischen Soldaten, die sie abgefeuert haben.
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