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Flüchtlinge in Österreich "Deutschland kann doch jetzt nicht zumachen"

Tausende Syrer stecken in Österreich fest. Sie wollen weiter nach Deutschland. Doch nun führt die Bundesrepublik Grenzkontrollen ein. Die Flüchtlinge lassen sich davon nicht abschrecken.

Evrim aus Aleppo hat sich in eine Wolldecke gewickelt. Ihr roter Sportpulli reicht nicht aus. Die junge Frau mit den blondierten Haaren harrt lieber die Nacht vor dem Wiener Westbahnhof aus, als in einer Notunterkunft zu schlafen. Sie will am Montagmorgen den allerersten Zug nach Deutschland nehmen. Doch es wird keinen geben.

"Wir haben gehört, dass Deutschland die Grenze zugemacht hat", sagt Evrim. Doch so ganz will sie es nicht glauben. Sie hat es von Mohammed gehört, ebenfalls aus Aleppo, der zu ihrer Reisegruppe von 15 syrischen Kurden zählt: Sie haben sich unterwegs zusammengefunden von der Türkei über den Balkan. Mohammed wiederum hat es von einer englischen Journalistin gehört, die am frühen Abend die Gruppe interviewte, als sie gerade aus Ungarn in Österreich ankamen. "Vielleicht hat er sie falsch verstanden", sagt Evrim.

Doch es stimmt: Deutschland hat am Sonntag vorübergehend an der Grenze mit Österreich Kontrollen eingeführt. Bereits am Donnerstag hatten die Innenminister der Länder Alarm geschlagen: Vorerst seien alle Unterkünfte voll, die Aufnahmekapazitäten am Limit. Nun soll der vorübergehende Stopp Deutschland entlasten und den Druck auf die anderen Europäer erhöhen, am Montag auf dem Treffen der EU-Innenminister eine gemeinsame Lösung zu finden.

Für die Flüchtlinge bedeutet dies, dass Österreich für sie plötzlich nicht mehr nur eine Durchgangsstation auf dem Weg nach Deutschland ist. Es könnte ihre neue Heimat werden. Die 15 syrischen Kurden vor dem Westbahnhof wollen davon nichts wissen. "Wir werden so lange warten, bis Deutschland die Grenzen wieder aufmacht", sagt Evrim. "Wir sind Kurden. Wir sind stur."

Fast jeder hat bereits Verwandte in Deutschland

Offenbar scheinen es die meisten Flüchtlinge so zu sehen: Rund 10.000 sind am Sonntag von Ungarn nach Österreich gekommen. Doch nur ein paar Dutzend Asylanträge wurden in Österreich gestellt. Die meisten wollen weiter. Warum unbedingt nach Deutschland?

"Mein Mann ist dort", sagt eine junge Frau aus der syrisch-kurdischen Enklave Afrin. Sie lebte die vergangenen zwei Jahre in der Türkei, wie alle aus der Gruppe. Ihr Mann floh bereits vor einem Jahr und bekam in Deutschland Asyl. Doch weil er erst für 2016 einen Termin bei der deutschen Botschaft in Ankara bekam, um seine Familie nachzuholen, entschied sich seine Frau zur Einreise mithilfe der Schmugglerboote.

"Mein Bruder lebt dort", sagt der 16-jährige Mohammed, der mit seiner Schwester unterwegs ist. Der Bruder studiert seit vier Jahren in Deutschland. Er hat seinen Geschwistern geraten nachzukommen. "Wir waren die vergangenen zwei Jahre in Istanbul", erzählt Mohammed. "Aber wir haben dort keine Perspektive. Ich werde in der Türkei nicht studieren können. Es ist für mich schon schwierig, zur Schule zu gehen."

Mindestens 1,7 Millionen Syrer leben inzwischen in der Türkei, allerdings haben sie nach türkischem Recht keinen Flüchtlingsstatus, sondern sind lediglich Gäste, die vorübergehenden Schutz genießen. Mehr als 80 Prozent von ihnen leben zudem außerhalb der Flüchtlingslager. Das heißt, dass sie nahezu keine Unterstützung bekommen und zudem nicht legal arbeiten dürfen. Ihre Situation wird immer schwieriger. Ähnlich ergeht es den Syrern in Jordanien und im Libanon.

"Was soll ich in Österreich?"

Evrim ist die Einzige in der Gruppe, die keine Verwandte in Deutschland hat. Sie sagt: "Deutschland kann doch jetzt nicht zumachen. Wohin sollen wir dann gehen? Was soll ich in Österreich? Ich weiß nichts über Österreich. Wir sind dort Fremde. Ich will nach Deutschland. In Deutschland sind so viele Syrer. Da sind wir keine Fremden." Dass es in München möglicherweise nicht einmal mehr ein freies Feldbett für sie geben könnte, schreckt sie nicht ab: "Bisher war doch auf dieser Reise nichts einfach oder umsonst."

Flüchtlinge könnten sich ihr Aufnahmeland nicht aussuchen, sagte Bundesinnenminister Thomas de Maizière am Sonntag. Er hofft, dass es in Zukunft gelingt, die Flüchtlinge in noch zu schaffenden Zentren in Ungarn, Griechenland und Italien zu registrieren und dann nach Länderquoten innerhalb Europas zu verteilen. Allerdings sträuben sich bisher die meisten osteuropäischen Länder gegen verpflichtende Quoten.

"Deutschland soll nur noch uns aufnehmen und dann kann es ja die Grenze wieder zu machen", schlägt Evrim halb scherzend vor.

Vor dem Bahnhof hat Evrim aufgeschnappt, dass die österreichischen Züge noch bis in die Nähe der Grenze fahren würden. Ob sie die Flüchtlinge so weit mitnehmen, ist unklar, aber sie will es versuchen. "Ich bin seit 17 Tagen unterwegs. Ich war allein zehn Tage in Griechenland. Wenn wir irgendwie bis in die Nähe der Grenze kommen, dann marschieren wir einfach zu Fuß nach Deutschland."

Video: "Deutschland führt die Grenzkontrollen wieder ein"

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